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Zeit der Selbstbesinnung

Solschenizyns „Archipel Gulag“ wird in Moskaus Schulen zur Lektüre empfohlen  ■ K O M M E N T A R

Längst war sie überfällig, die Empfehlung einer sowjetischen Schulbuchkommission, den Archipel Gulag Alexander Solschenizyns über die Lager der Stalinzeit auch zum Unterrichtsstoff zu machen. Die triviale Einsicht, radikale politische Veränderungen können nur auf dem Fundament einer ungeschminkten Geschichtsaufarbeitung vollzogen werden, stellte sich nicht erst heute ein. Bereits im vergangenen Jahr brauchten die sowjetischen Schüler keine Abiturprüfungen im Fach Geschichte abzulegen. Das Auswendiglernen kanonisierter Parteigeschichte entsprach schon damals nicht mehr dem Stand der öffentlichen Enthüllungen. Auch mit dem Eingeständnis millionenfachen Mordes, von dem ohnehin kaum eine Familie in der Sowjetunion verschont geblieben ist und der durch seine Tabuisierung ein gesamtgesellschaftliches Trauma hervorgerufen hat, werden die sowjetischen Historiker nicht aus der Pflicht entlassen. Sie können allerdings nur noch das nachvollziehen, was Presse und Publizistik auf breiter Front längst offengelegt haben. Für die Historiker beginnt jetzt eine schmerzhafte Zeit der Selbstbesinnung.

Aber nicht nur für sie. Denn mit der Erhebung zum offiziellen Lehrstoff wird die Interpretation jetzt endgültig festgeschrieben. Die nachwachsende Generation wird es leichter haben, die neue Version der ruhmreichen Sowjetgeschichte zu akzeptieren, als die Generation ihrer Eltern und Großeltern. Denn für sie ist Glasnost schon zu einer elementaren Lebenserfahrung geworden. Dazu gehört auch ein kritischer Umgang mit der eigenen Geschichte. Die Konflikte in den Elternhäusern sind damit aber vorprogrammiert. Die Älteren werden sich jetzt peinvolle Fragen gefallenlassen müssen. In einer Gesellschaft wie der sowjetischen mit noch relativ autoritären Familienstrukturen muß das dramatische Folgen zeitigen, die die Dimension eines Generationskonfliktes weit übertrifft. Ähnliches haben die Deutschen mitgemacht, hinter sich haben sie es auch nach vierzig Jahren noch nicht.

Wenn, wie in der Empfehlung der Schulbuchkommission geschehen, die Themen einer freien Diskussion anheimgestellt werden sollen, ist damit noch eine weitere Neuerung verbunden, die nicht reibungslos funktionieren wird. Bisher beschränkte sich der sowjetische Schulalltag auf das Auswendiglernen. Wer ein gutes Gedächtnis hatte, war auch ein brauchbarer Schüler. Schwierigkeiten mit der nun eingeforderten Dialogstruktur werden zunächst wohl nur die Lehrer haben, die mit den Formen kommunikativen Handelns nicht vertraut sind, sich bisher keine Widerrede gefallen lassen mußten. Eine Geschichtsrevision, die auf die Forderung nach ihrer diskursiven Behandlung verzichtet hätte, wäre fragmentarisch und den alten Mechanismen verhaftet geblieben. Das hat man nun endgültig erkannt. Aber der Weg wird steinig sein.

Klaus-Helge Donath

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