: Londoner Konferenz über Kriegsverbrechen
Internationale Tagung zum Umgang mit Nazi-Kriegsverbrechern in Großbritannien / Bislang können nur wenige, die sich nach England absetzten, vor Gericht gestellt werden / Erst jetzt wird ein Gesetz vorbereitet / Faschisten demonstrieren vor dem Tagungsgebäude ■ Aus London Ralf Sotscheck
Das Londoner „Royal Westminster Hotel“ liegt nur einen Steinwurf vom Buckingham Palast entfernt. Während vor dem Palast die bärenmützigen Wachtposten bewegungslos verharren, hat sich am Montag morgen vor dem Hotel eine lautstarke Gruppe versammelt: Etwa 15 Faschisten protestieren mit Plakaten, die sie sich um den Hals gehängt haben, gegen den „bösen Holocaust-Schwindel“. Die Gruppe streitet die Existenz von Gaskammern in deutschen Konzentrationslagern rundweg ab. Richard Harwood, ihr Anführer, räumt zwar ein, daß Juden von den Nazis hingerichtet worden seien - „aber nur wegen Sabotage“. Eine junge Frau im Tweedkostüm ruft wie eine Sprechpuppe pausenlos denselben Satz: „Sechs Millionen Lügen.“
Währenddessen treffen die ersten Teilnehmer der internationalen Konferenz „Time for Justice“ (Zeit für Gerechtigkeit) ein. Die Konferenz ist von einem Parlamentsausschuß einberufen worden, der sich mit Nazi -Kriegsverbrechen beschäftigt und eine Gesetzesänderung vorbereiten soll. Bisher ist es nicht möglich, Kriegsverbrecher in Großbritannien vor Gericht zu stellen, wenn sie zur Tatzeit keine britischen Staatsbürger waren. Bis vor drei Jahren hat die Regierung behauptet, daß es in Großbritannien keine Kriegsverbrecher gibt. Erst als im Oktober 1986 das Simon-Wiesenthal-Centre in Los Angeles der Premierministerin Thatcher über tausend Seiten mit Belastungsmaterial gegen 17 mutmaßliche Kriegsverbrecher überreichte, setzte Innenminister Hurd eine unabhängige Untersuchungskommission ein. Die Kommission unter Vorsitz des ehemaligen Generalstaatsanwalts Sir Thomas Hetherington legte schließlich im Juli ihren Bericht vor. Darin wird empfohlen, das Gesetz so schnell wie möglich zu ändern, damit Anklage erhoben werden kann, solange die Betroffenen noch leben. Gegen vier Männer hat die Kommission genügend Beweismaterial für die Anklage zusammengetragen. Einer von ihnen ist inzwischen allerdings gestorben, und ein weiterer hat ein Attest vorgelegt, das ihm Prozeßuntauglichkeit bescheinigt. In 75 Fällen empfahl die Kommission nähere Untersuchungen. Bei den mutmaßlichen Kriegsverbrechern handelt es sich fast ausschließlich um Balten, die den mobilen Einsatzgruppen der Nazis angehörten und nach dem Krieg unerkannt nach Großbritannien kamen. Ihre Auslieferung an die Sowjetunion wird in dem Untersuchungsbericht abgelehnt, weil „die Öffentlichkeit nicht der Meinung (sei), daß sie dort einen fairen Prozeß zu erwarten haben“.
Auf der Konferenz am Montag unter Vorsitz des ehemaligen Labour- Innenministers Merlyn Rees dominieren die Nadelstreifen. Die Teilnehmer sind fast ausnahmslos Aristokraten, Politiker und hohe Regierungsbeamte, die sich auf Nazi-Kriegsverbrechen spezialisiert haben. Sogar die Medienvertreter haben sich in Schale geworfen. Die wenigen Überlebenden der Konzentrationslager, die als „Zeitzeugen“ eingeladen worden sind, wirken in der akademischen Gesellschaft etwas verloren. Zunächst berichten Experten aus den USA, Kanada und Australien über die Verfolgung von Kriegsverbrechern in ihren Ländern. In den USA ist erst 1979 eine Sondergruppe eingesetzt worden, die von 1.200 Fällen bisher nur die Hälfte untersuchen konnte. Gegen 80 Leute sind Verfahren eingeleitet worden. Bisher sind 30 Kriegsverbrecher an andere Staaten ausgeliefert worden.
Generalstaatsanwalt Hetherington bekräftigte vor der Konferenz seine Forderung nach einer Gesetzesänderung und nach weiteren Untersuchungen. Es sei nötig, größeren Druck auszuüben, damit das Parlament das Gesetz im November verabschiede. Er betont, daß die Sowjetunion bis vor kurzem Beweismaterialien vorenthalten habe. Dem widerspricht jedoch der Nazi-Experte Tom Bower. Er sagt, die Materialien aus der UdSSR liegen seit Jahrzehnten vor, seien aber als Propaganda abgetan worden.
Das Schlußwort der Veranstaltung bleibt Kitty Hart vorbehalten. Sie war als Kind in Auschwitz interniert. Kitty Hart erzählt von ihren Erfahrungen mit Kriegsverbrecher -Prozessen, zu denen sie als Zeugin vorgeladen wurde. Besonders beispielhaft sei die Bundesrepublik, wo ganze Schulklassen an den Verfahren teilnehmen. Der erzieherische Wert dieser Prozesse sei daher nicht hoch genug zu schätzen.
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