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Hotte

■ Ein Außenseiter im Ost-West-Vergleich

Gabriele Goettle

Er ist in diesem Sommer 38 geworden, aber man sieht ihm nichts an. Hotte pflegt sich. Sogar jetzt, mitten im Oktober, schwimmt er noch jeden Morgen um sieben seine Runden im See, da kennt er nichts. Schon wegen der Beinarbeit. Die ist für ihn momentan das Wichtigste. Trotz allem ist Hotte stolz auf seinen Oberkörper, den macht ihm so leicht keiner nach. Das andere kriegt er auch noch hin. Sowas kommt ja nun leider nicht über Nacht, schließlich hat er jahrelang daran gearbeitet. Keine Frage, natürlich sieht es letzten Endes unmöglich aus, wenn der Körper wirkt wie falsch zusammengesetzt. Oben ein Herkules, unten Beine wie Fädchen ohne die Spur von Relief. Das hat sich eben so ergeben, was soll sein.

Den Paule traf er auf dem Sozialamt. Stand in der Schlange zur Kasse vor ihm. Er hat diese drei Punkte eintätowiert zwischen Daumen und Zeigefinger, da war dann gleich alles klar zwischen ihnen, und Hotte sagte: „Na sowas. Daß ihr das auch habt hier im Westen!“ Sie gingen ein Bier trinken. Der Paule wußte auch keine Bude, hatte ja selber keine. Hotte ist dann mitgefahren in den Grunewald, nur so zum Spaß. Nette Gegend, wie's halt bei den reichen Leuten so ist. Reichlich Pullen, Tabak und Essen schleppten sie mit, Hotte hat auch gelöhnt, das war ja selbstverständlich. Die Kumpels von Paule, fünf Mann, die waren in Ordnung. Alle jünger, nur Opa, der ist fast 60. Sie hatten sich eingerichtet, direkt auf dem Strand, holten einen Klapptisch, Stühlchen, Sonnenschirm, und dann wurde ausgepackt. „Hotte hat das springen lassen“, sagte Paule, und die Kumpels lächelten ihn an und zogen sich nackt aus; alle dunkelbraun.

Es war ein heißer Tag. Hotte zog sein Hemd aus, und der Opa sagte: „Der macht Sport“, aber die anderen widersprachen: „Quatsch! Bodybuilding macht der.“ Hotte nickte und wollte sich setzen, aber Paule befahl: „Nu mach schon, zieh die Hosen aus, das ist hier ein Nacktbadestrand!“ Da gab's natürlich Grund zum Lachen. Das war peinlich. Hat aber eigentlich nicht lang gedauert, dann waren sie wieder friedlich, man saß zusammen, die Pullen gingen rum und jeder drehte sich eine. Ringsum Nackte, ganz normale Bürger, Mütter warfen ihren Blagen Gummibälle vor den Bauch, Rentner schleuderten sich Frisbee-Scheiben zu, und oben lagen die Schwulen und ölten sich gegenseitig den Rücken ein. Opa erklärte: „Das ist hier der Bullenwinkel, früher war's mal die Viehtränke, hat nichts mit Bullen zu tun. Die stören uns nicht, kommen hier vorbei mit dem Pferd, nackte Weiber anschau'n, sonst nichts.“ Sie hatten es ganz nett. Unter den Bäumen war das ganze Zeug, Schlafsäcke, Bauplanen, die Taschen mit den Sachen, der ganze Besitz. Sogar ein Schlauchboot war da und Angelzeug.

Seitdem lebt Hotte im Bullenwinkel. Hat sein Zeug aus dem Wohnheim geholt und sich pro forma bei einer Freundin von Paule in Spandau angemeldet, polizeilich. „Eine Adresse ist das Wichtigste!“ so Paule. Im US-Shop hat Hotte dann einen grünen Seesack, den Schlafsack mit den Tarnfarben, Wäsche und ein paar Klamotten gekauft, alles Superqualität, obwohl's gebraucht ist.

Abends sitzt man herum, zockt, trinkt Wein und erzählt Geschichten. Sobald es dunkel ist, wird Feuer gemacht, ist sogar erlaubt auf dem Sand. Der ganze Wald liegt voll mit abgebrochenen Ästen. „Waldsterben hat auch sein Gutes“, sagt der Student und legt nach. Fast alle waren sie schon mal im Bau, nur Bernd nicht, der mal Lehrer werden wollte, und der Opa sowieso nicht. Der Alte war bei der Reichsbahn, sogar in der SEW, hat damals, als die S-Bahn von der DDR dem Westen übergeben wurde, wie viele seiner Kollegen die Arbeit verloren. Streckenstillegung. Er hat Probleme mit den Zähnen, dauernd dicke Backen, nicht versichert, schluckt den ganzen Tag Tabletten. Die drei Jungen sind Brüder, im Heim aufgewachsen, hängen zusammen wie Kletten, spielen immerzu Fußball und wollen nach Australien auswandern, haben natürlich nichts gelernt außer Autoradio ausbauen, Zündschloß kurzschließen und Automaten knacken, dafür das aber zuverlässig. Paule war Setzer, hat alles gekonnt, das Blei hat er heute noch in den Knochen, trotz der Milch, die es jeden Tag gab. Nach der Modernisierung war es dann vorbei. Das ganze Ullsteinhaus hat zugemacht. Steht heut rum in Tempelhof, wenn er mal vorbeifährt am Turm, gibt's ihm richtige Stiche. Die Frau ist weg mit den Kindern. Saufen, Schulden, und dann war auch die schöne Wohnung futsch. War vier Jahre im Bau wegen einem Bruch. Er kennt sich am besten aus, macht schon zehn Jahre lang irgendwo Platte, weiß, wo's im Winter warm ist, wo das Futter steht und wie man Geld locker macht beim Amt.

Bei Hotte ist das ein bißchen anders gelaufen. Er hat Maurer gelernt, dann aber in einem Baukollektiv gearbeitet, da haben sie alles hochgezogen mit Fertigbauteilen aus Gußbeton. Er ist in der Republik herumgekommen mit seinem Kollektiv, hat gut verdient. Neubauwohnung, Auto, eine Tochter, alles da. Die Ilse, seine Frau, hat im Getränkekombinat gearbeitet. Urlaub an der Ostsee, in Ungarn, bestens. Bis eines Tages dann die blöde Sache passiert ist. Ein kleiner Streit, dann hat Herbert angefangen, gleich voll zugeschlagen, oben auf dem 7.Stock, Hotte griff sich ein Schalbrett und drosch los, dabei ist der Herbert dann abgestürzt. War natürlich nichts mehr zu machen. Fahrlässige Tötung und ab in den Bau.

Der Student sagt: „Juristisch gesehen hätte es ja eigentlich als Unfall gelten müssen“, aber Paule fährt ihm ins Wort: „Ach was, wennse dich mal am Arsch haben, biste fertig, da fällt ihnen immer was ein, ob hier oder drüben“. Der Opa ist eingenickt und die Brüder zocken, einer verschwindet ab und zu im Wald, und der andere sagt: „Die Sau wird uns mit ihrem Dünnpfiff alles einscheißen“, dann schau'n sie ihre Karten an und kichern.

Paule dreht sich eine und gibt sie dann Hotte, der Student legt noch einen dicken Brocken aufs Feuer und fragt: „Wie isses denn drüben im Knast so, erzähl doch mal, Hotte“, und die Brüder rufen: „Ja, Alter, was is nu mit die Muckis?“ Hotte greift sich an der Nase rum und fängt dann an:

„Ja das ist also so. Du liegst auf der Bude mit zwölf Mann mindestens. Alles voll mit Dreierregalen, wenn du oben liegst ist gut. Alles ein bißchen eng, aber das ist reine Gewöhnung. Krimis und Politische, alles Durcheinander. Wenn du Glück hast, bist du mit Krimis zusammen. Die Politischen machen dich fertig, das hältst du nicht aus. Reden die ganze Zeit ihren Scheiß vom Westen, wieviel der BMW macht, was ein Mercedes kostet gebraucht, wie Fischstäbchen schmecken, Whopper, sowas, über Video können sie stundenlang quatschen, da ziehn sie sich dran hoch, endlos. Mit den Krimis kannste zocken, hast was zu lachen, ich sag dir, letzten Endes haben die mehr Bewußtsein als die Politischen, denen es egal ist mit der Ausbeutung im Westen. Leider gibt's in den meisten Knästen mehr Politische als Krimis, jedenfalls war das damals noch so.

Ich hab Glück gehabt. Prima Kumpels. Einer war ganz scharf auf Bodybuilding. Kraftsport ist natürlich ganz groß, im Bau aber verboten. Du mußt es heimlich machen. Abends nach Einschluß ham wir gearbeitet, der Kumpel und ich. Er hat mich gehoben, gestemmt, der hat mir alles beigebracht, mich trainiert. Saß hinter mir auf dem Schemel, und ich hab seine Arme nach vorn zusammengedrückt, so 30-50 mal. Der hatte vielleicht einen Zug, das glaubt man nicht. Jahrelang ham wir zusammen gearbeitet, dann wurde er auf einmal entlassen. Für mich war das schlecht. Wir wollten noch die Beine machen, und jetzt war bei mir nur der Oberkörper soweit. Mit einem anderen Kumpel hab ich dann versucht weiterzumachen, aber das war nichts, der war zu schwach. In der Produktion waren noch andere, die haben dann einen kleinen Raum eingerichtet, natürlich mit Billigung des Meisters. Da war eine Stange, konnste Klimmzüge machen, die von der Schlosserei ham was zusammengeschweißt mit Gewichten, das war nicht schlecht. In der Pause konntest du mal verschwinden und ein bißchen was machen, aber der Andrang war groß. Viele haben auch Kampfsportarten gemacht, sprangen abends durch die Bude und mit der Fußspitze gegen den Spion, sowas halt.

Arbeit ist auch reichlich. Drei Schichten. Bei der Frühschicht z.B., da ist um vier Uhr dreißig Wecken. Haste ne halbe Stunde, waschen, rasieren, Betten baun, pissen. Zwei Waschbecken, das Klo immer besetzt, ist ja klar. Dann Zählung, alles in einer Reihe aufstellen, danach runter in die Freßhütte. Nach dem Frühstück kannste eine paffen, da sind die tolerant. Wieder aufstellen, zählen, dann Abrücken mit deinem Arbeitskommando. Um sechs ist Arbeitsbeginn. Meistens biste in der Produktion. 90 Prozent der Leute. Der Rest hat's gut, ist in den Werkstätten, Schlosserei, Schreinerei, Küche oder im Hausdienst, da kannste allerhand organisieren. In der Produktion wird z.B. gearbeitet für Pentacon, du machst Gehäuse für Kameras, alle Teile außer der Optik natürlich. Das geht alles arbeitsteilig, öde, in einer Werkstatt wird nur gestanzt, in der nächsten bohrst du nur Gewinde, in einer andern stehst du den ganzen Tag und schneidest den Grad ab, der beim Pressen herausgequollen ist. Die Meister sind Zivile von draußen, manche ganz nett. Zusammengesetzt wird nicht bei uns, die Einzelteile gehn nach Jena zu Pentacon, die machen den Rest. Natürlich gibt's jede Menge Ausschuß, Ärger und Abzüge.

Da machste deine acht Stunden runter, zwischendurch in die Freßhütte, Mittag, am Ende eine Stunde Freihof. Da sind sie gnadenlos, auch bei klirrender Kälte darfste 60 Minuten rumgehn. 120 Mann drängeln sich, rundum hohe Mauern, kein Grashalm, jeder hat vielleicht einen Quadratmeter oder so, und oben sitzt der Bulle in seinem Wachturm und glotzt runter. Dann kannste einkaufen gehn, da ist ein Konsum in der Anstalt, eben alles, was man so darf, Zigaretten, Tee, Kuchen, Konserven, Pflaumen im Glas, sogar Eier ham sie. Dann Zählung und hoch auf deinen EB, so heißt das offiziell, Erziehungsbereich, man sagt aber Kommando. Nu haste Freizeit. Kannst dich kloppen ums Tischtennis oder ein Billard für Gören. Zocken, lesen oder schnarchen kannste auch. Am Dienstag ham die Politischen öfter um 18.25 Uhr im zweiten den „Schwarzen Kanal“ sehen dürfen, Abschreckung und so, Skandale im Westen, die ham davorgeklebt, nichts gesagt, aber hinterher dumm gequatscht. Sonst war Fernsehen nur am Wochenende, aber sozusagen als Vergünstigung dafür, daß du deine Leistung erbracht hast, dann mußte dich eintragen in die Liste, die Bullen bestimmen das Programm, kein West klarerweise. Das macht keinen Spaß.

Wochentags ist um acht Zählen und Einschluß. Jetzt machst du dir noch schnell eine Dröhnung superstarken schwarzen Tee. Da hast du den Dröhner, das ist auch so eine Sache, alte Knasttradition. Ganz einfach, zwei Metallscheiben, dazwischen Isomasse, Kabel dran, Birne aus der Fassung drehn, anschließen, ins Wasser rein und in fünf Sekunden hast du dein kochendes Wasser. Du mußt das halt im Dunkeln machen, keine Steckdosen auf der Bude, ist zwar gefährlich, aber sowas lernste. Ist nie was passiert, außer natürlich mit den Sicherungen, die fliegen dauernd raus. Ein Kumpel hat mal sogar den gesamtgen Bau lahmgelegt. Wird ja auf allen Buden gemacht um dieselbe Zeit. Das gibt dann Ärger, ist ja ein irrer Stromverbrauch, der da entsteht. Aber irgendwie ham sie sich schon drauf eingestellt. Ab und zu ziehn sie einen Dröhner hoch, die Bullen, das kostet dich dann einiges. Dann machst du dir nen neuen. Ja und so trinkst du abends deine fünf bis zehn Tassen Dröhnung, nimmst dein Abendbrot ein und um 9.30 Uhr wird das Licht abgedreht. Da gibt's dann prima Kerzen, Cremetopf, Schmalz rein reichlich und einen Schnürsenkel. Du hast gutes Licht und kannst weiterzocken oder auch lesen dabei. Die Bullen schaun spät meist nicht mehr zum Spion rein, sind viel zu faul, gucken Fernsehen oder zocken auch.

Tätowieren ist natürlich auch Mode. Verboten klarerweise. Wir sagen „hacken“ dazu. Fängste am besten mit den Oberarmen an oder mit der Brust, da sieht man's nicht gleich. Nadel, Bindfaden rumwickeln bis fast zur Spitze, dann rein in die Tinte, bis sich alles richtig vollgesaugt hat, schon kanns losgehen. Manche Kumpels sind richtig gut, da mußt du dann zahlen, die machen nach Vorlage oder was du willst. Hier, das Spinnennetz hat mir der Jule gehackt, das ist doch echte Qualität. Die drei Punkte hab ich selbst gemacht, gleich am Anfang, heißt auch so ähnlich wie hier, pervers, arbeitsscheu und asozial. Sieht natürlich jeder, zahlste deine Strafe. Bei der Entlassung machen sie Körperkontrolle, dann sehn sie klarerweise alles, sagen aber nur: „Na, da haben Sie sich aber ganz schön behacken lassen“, damit ist es erledigt.

Mit Musik ist nichts. Auf den Fluren gibst Lautsprecher, aber frage nicht, was du da hörst, Bullengeschmack, tschechische Polka, böhmische Blasmusikanten, sowas eben.

Geschäfte reichlich. Da läuft einiges. Am besten sind natürlich Westwaren. Die Politischen geben dir für eine Camel mindestens sieben Mark, für eine Seife „Irischer Frühling“ zahlen die mindestens zehn. Du kannst sie wild machen damit, auch Kaugummi, sowas. Bei uns gibt's ja Knastgeld, Papierscheine, eine, zwei, zehn Mark, damit läßt du dich bezahlen, kaufst im Konsum, zahlst deine Strafen. Kannstes auch sparen und bei der Entlassung in richtigem Geld auszahlen lassen. Aber das lohnt kaum, du verdienst ja nur wenig. Also in der Produktion z.B. verdienst du zwar so um die 1.000 Mark, davon siehst du aber nur den kleinsten Teil, das meiste behält der Staat. 80 kriegst du ausgezahlt im Monat, 50 gehn auf Rücklage auf dein Konto. Du kannst noch so 20 dazumachen bei 125prozentiger Planübererfüllung, dann rabottest du dich aber zum Affen in der Produktion. Den dicken Batzen kassieren sie, deshalb hassen sie natürlich die Amnestie, da stehn sie ja vor der Pleite.

Einheitsklamotten haben wir. Sommergarnitur, Wintergarnitur. Zweimal Unterwäsche für die Woche. Die Klamotten sind abgelegte Bestände von der Volksarmee und den Grenztruppen. Lauter Graugrün, paßt auch nicht immer.

Wenn du Asket bist, kannste auch die Arbeit verweigern. Nur einmal im Vierteljahr Besuch, sonst jeden Monat, jede Woche ein Buch, Einzelzelle im Sonderbereich, tagsüber ziehn sie die Matratze ein, verdienst natürlich kein Geld. Die Verpflegung ist normal. Sie versuchen natürlich, mit dir zu reden, aber wenn du hart bleibst, dann machen sie auch keinen Terror. Lassen dich erstmal in Ruhe. Wenn du wissenschaftliche Bücher bestellst, kannst du in aller Ruhe sogar was studieren. Überhaupt, die Bibliothek ist ganz gut, das wird den Bernd interessieren, du kriegst allerhand, nicht nur Romane, auch wissenschaftliche Bücher, alte Sachen, Klassiker, Reisesachen, Expeditionsbeschreibungen, sowas, aber die Werke von Marx/Engels kriegst du nicht, da sagen sie, wegen Mangel an Nachfrage ham wir die MEW nicht. Auch Dostojewski nich, ist ihnen zu viel Gewalt drin. Das ist doch komisch. Antifa-Sachen gibt's, da ist auch Gewalt drin, aber du kannst sie haben. Krimis klarerweise, da ist gar nicht dran zu denken, aber sonst, was ich so gehört hab, besser als im Westen.

Mit Sex, naja, wohl das Übliche. Manche gehn miteinander, andere kaufen, es soll auch mal was Brutaleres vorgekommen sein, aber nicht zu meiner Zeit, sonst eben Handarbeit, je nachdem, wie lange du sitzt und wonach dir so ist. Die Politischen jedenfalls, die wichsen nicht mal, die geilen sich auf an ihrem Westscheiß, das reicht denen schon.

Klarerweise ham wir zu saufen. Pflaumenschnaps, der steigt dir ganz nett in die Birne. Da organisierst du einen Kanister aus Plastik in der Küche oder so, da gibt's sowas für Reinigungsmittel, den mußt du 100prozentig saubermachen. Dann Brot. Ganz wichtig, du mußt die Kruste wegschneiden. Dann schüttest du Pflaumen drauf aus dem Glas, ein bißchen Wasser und alles richtig durchkneten, bis alles matschig ist. Rein in den Kanister, Deckel drauf. Da muß ein Loch drin sein, damit du den Schlauch reinstecken kannst für die Entlüftung. Das stellst du weg ins Warme, versteckt natürlich, und nach acht Wochen, wenn er dir nicht hochgezogen wird von den Bullen beim Filzen, mußt du nur noch alles absieben und fertig. Das gibt dann Stimmung. Hat schon auch mal einer den Moralischen gekriegt. Für manche Kumpels ist alles zu spät. Die sitzen, eigentlich wegen kleinen Sachen, dann kommen sie raus, und schon sind sie wieder da. Die haben draußen keine Chance mehr, oft richtig dufte Jungs, intelligent, haben sich im Knast sogar gebildet, aber sie kriegen es nicht auf die Reihe. Andere natürlich sind saublöd, mimen den Harten und haben nichts drauf.

Eines Tages bin ich runtergebracht worden, da waren zwei Typen, die haben gefragt, was ich so vorhabe, und ich sag, na, ich will in den Westen, ich habe die Schnauze voll. „Ham Sie sich das auch gut überlegt?“ fragen die, und ich sag „Na klar!“ Und tatsächlich. Ich wurde freigegeben, man wollte mich wohl loswerden. Das ist ganz schnell gegangen, paar Tage später hab ich alles unterschrieben, fertig und ab. Na, das war ein Schock. Ich hab in den ersten Wochen nur geschlafen, konnte gar nicht raus auf die Straße hier, da wurde mir schwindelig, das viele Zeug, alles so grell und flitzt vorbei. Nun ist es schon besser.

Aber ist ganz schön hart hier, das kann man sagen. Drüben haste immer irgendeine Bude, die paar Mark machste schon. Arztbehandlung haste auch frei. Opa hätte bei uns kein Zahnweh, garantiert, und obdachlos ist sowieso nicht. Da ham sie mir hier auf dem Amt gesagt, ja leider, momentan ist es ganz schlecht mit Arbeit und Wohnungen, eine Weile soll ich's noch im Wohnheim aushalten. Ab 35 biste für den Arbeitsmarkt ja Schrott. Dann sollste auch noch Geduld haben. Ich hab Geduld. Ihr habt auch Geduld, was? Und jetzt kommen unsre Leute rüber und denken, das geht immer noch so mit dem roten Teppich, die Heinis. Die werden das auch noch lernen. Da können sie lange „Freiheit“ schrein und ihre Bälger anschleppen als Einstand, die Arschlöcher, die glauben, das isses dann, und jetzt geht die große Fettlebe los.

Drüben möcht ich jetzt sein, nee wirklich. Die Journalisten wollen demnächst demonstrieren gehn für mehr Meinung. Da hab ich schon genug. Jedem würd ich gern einzeln eins in die Fresse haun. 10, 20 Jahre haben sie das Maul gehalten und gut damit gelebt, und jetzt sind sie die Kämpfer der ersten Stunde für mehr Demokratie. Genauso die vom Neuen Forum. Elite! Pfaffen, Studenten und Künstler. Was wissen denn die von den Proleten? Die labern rum, ham kein Bewußtsein und wollen die eigenen Vorteile verbessern. Die werden Land und Volk verraten wie die Polen und die Ungarn, klarerweise. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff... oder halt, falsch... sie besteigen das sinkende Schiff und wollen ans Ruder, na, wie auch immer. Ich jedenfalls kann sagen „endlich im Grunewald, geschafft“ oder was?“

Das Feuer ist runtergebrannt, es wird allmählich Morgen. Im Bullenwinkel deckt der Paule den Opa zu, und dann rollen sich alle in ihren Schlafsäcken zusammen. Bald geht die Sonne auf.

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