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SED bittet zum Dialog Tausende vor Rotem Rathaus

Ostberliner „Sonntagsgespräch“ / Oberbürgermeister und Ostberliner SED-Chef vermieden konkrete Antworten / Aufruf zur Demonstration am 4. November  ■  Aus Ost-Berlin Petra Bornhöft

Pauschale Kritik könne er nicht akzeptieren, verkündet der Ostberliner SED-Chef Günter Schabowski vor den Tausenden, die sich vor dem Roten Rathaus versammelt hatten. Zuvor hatte der erste Redner des gestriges „Sonntagsgesprächs“ moniert, daß Egon Krenz in seiner Antrittsrede als erstes über den Führungsanspruch der SED und nicht über die Krise des Landes geredet hatte. Schabowskis Antwort markiert die Linie der versammelten Partei- und Staatskader.

„Wir müssen jetzt nach vorn denken“, bringt Hermann Kant mit gewohnt schneidender Stimme die Haltung der Partei auf den Punkt. Doch immer wieder treten Menschen ans Mikrofon, die sich die Vergangenheit von der Seele reden wollen. „Nicht vergessen“ kann eine Ärztin, „wie die Verhöre bei der Staatssicherheit mir Gesundheit und Nerven geraubt haben“. Nicht vergessen hat ein Arbeiter, daß seine Frau und er Geldstrafen zahlen mußten, weil sie Nachbarn nicht angezeigt haben, die über Ungarn das Land verließen. Ein anderer fordert eine Schweigeminute für die, die an der Mauer ums Leben kamen. Auch Schabowski schweigt und hebt die Hand.

Nicht so der ordensgeschmückte Polizeipräsident Rausch. Er hat zusammen mit dem stellvertretenden Generalstaatsanwalt Voß den schwersten Stand. Er beharrt auch auf der Polizei und Staatsversion, daß es sich bei dem Polizeiterror am 7./8. Oktober in Ost-Berlin um individuelle „Übergriffe“ gehandelt habe, die Protokolle enthielten „ein Teil Wahrheiten, ein Teil Halbwahrheiten und ein Teil Lügen“. Seine Statistik über Eingaben und Beschwerden geht in Pfiffen unter. OB Krack springt ein und unterbreitet den „Vorschlag“, eine „Kommission des Stadtparlamentes aus Parteien, Organisationen und Bürgern“ mit der Untersuchung der Vorfälle zu beauftragen.

Schabowski hält sich zurück, obwohl er permanent das Wort ergreift. Zur Forderung nach Rücktritt von Stasi-Chef Mielke und Bildungsministerin Margot Honecker - „Wieso hat die noch kein Sterbenswort zu nötigen Veränderungen im Volksbildungswesen gesagt?“ - schweigt der eloquente SED -Sekretär. Man solle nicht über Personen reden, die „nicht präsent sind“.

Das könnte bedeuten, daß das Schicksal dieser beiden noch ungewiß ist. Denn beim mehrfach angesprochenen „Thema Karl -Eduard“ Schnitzler ist Schabowski nicht um eine Antwort verlegen. Dessen Gesicht und Kommentare im Schwarzen Kanal sind vielen DDRlern unerträglich. Schabowski: „Ich bin sicher, daß Karl-Eduard diese Stimmungslage nicht verborgen geblieben, daß er ein kluger Mann ist und daraus Konsequenzen zieht.“

Eine derartige Konkretionsstufe erreicht Schabowski in keiner anderen Frage. Auf Unmut stößt die permanente Wiederholung einer sattsam bekannten Floskel: „Ihr könnt sicher sein, daß wir alle Anregungen von hier aufnehmen und prüfen werden.“ So lautet die Antwort auf die Fragen, wann es freie Wahlen gäbe, wann man endlich mal nach West-Berlin reisen könne, wann die Privilegien für Funktionäre abgeschafft würden. Aber der Spur von Berliner Humor und dem Anflug von Ehrlichkeit in Schabowskis Reden zollten die Anwesenden oft Beifall - und Gelächter. So meint auch Schabowski, daß die „Gepflogenheiten“, sämtlichen hohen Kadern ein gemütliches Heim in Wandlitz, der verbotenen Stadt der DDR am Nordrand von Berlin, zu sichern, „überlegt werden müssen“. Ein Arbeiter hatte vorgeschlagen, Wandlitz in ein „wunderbares Ferienprojekt“ umzuwandeln. Dazu Schabowski: „Naja, dazu braucht man dann ja anderswo Wohnungen“ - und die fehlen bekanntlich überall in der DDR.

Auch seine Bitte um Entschuldigung, daß der „Dialog spät, aber noch nicht zu spät kommt“, stieß auf wohlwollendes Verständnis. Die Ankündigung der für den 4. November geplanten großen Demonstration nahm Schabowski gelassen hin, sagte nur, Demonstrationen müßten angemeldet sein, „damit kein Blut fließt“. Darauf hingewiesen, daß die sozialistische Bewegung ohne Demonstrationen in früheren Jahrzehnten nicht zustande gekommen wäre, entgegnete der Parteigenosse: „Demonstrationen werden auch in Berlin zur politischen Kultur gehören“.

So erfreulich dieser Blick in die Zukunft ist, manche verstehen ihn als Vertröstung. „Wir wollen die Vertrauensfrage jetzt und nicht erst 1991“, sagte einer und spielte auf die nächsten Wahlen an. Doch die Herren vorm Rathaus blieben dabei - über eine Änderung des Wahlgesetzes oder die Zulassung anderer Parteien kein konkretes Wort. Um eine Stellungnahme zu den letzten Wahlfälschungen gebeten, sagte OB Krack: „Wir werden alles so verändern, daß wir dann über solche Dinge nicht mehr sprechen müssen.“ Als ein Konzertmeister Schabowski bitten wollte, den Staatsrat anzuregen, die offizielle DDR-Position zu China zu revidieren, „um die Schande von der Volkskammer zu nehmen“, waren Schabowski und Krack nicht mehr da. Sie hatten eine Verabredung mit Walter Momper.

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