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Schwebelage eines Provisoriums?

■ Das „Theaterhaus Gessnerallee“ in Zürich eröffnet

Ein Theaterhaus für freie Gruppen im Zentrum der Stadt - daß dieser Wunsch in Zürich wahr wurde, hat die dortige freie Szene indirekt dem Militär zu verdanken. Denn das hatte sein Quartier an der Gessner allee, einen Katzensprung vom Hauptbahnhof und der Altstadt entfernt, verlassen. Die Gebäude standen leer, und nach jahrelangem Hin und Her wurde jetzt in der Reithalle des Areals der Theaterbetrieb aufgenommen, vorerst auf drei Jahre beschränkt. Die Stadt hat die Halle und die Stallungen für eine knappe Million Franken umgebaut und subventioniert den Betrieb in einer dreijährigen Probephase jährlich in gleicher Höhe. Das Ergebnis bis jetzt: ein großer Saal und zwei Probebühnen. In die noch leerstehenden Gebäude sollen eine Schauspielakademie und eine Kunsthalle einziehen; eine „Kulturinsel“ soll es einmal werden. Aber was aus dem „Theaterhaus Gessnerallee“ wird - Theaterlabor oder Spektakelhaus, ein Ort der Auseinandersetzung oder lediglich ein weiteres Angebot in einer kulturell nicht unterversorgten Stadt -, das muß sich in Zürich erst noch zeigen.

Daß es nach der ersten Probephase weitergeht, scheint sicher zu sein; in welcher Größenordnung jedoch, hängt vom Erfolg ab. Von daher steht das Projekt unter Leistungsdruck. In einem ist sich das vierköpfige Leitungsteam sicher: Ihre Bühne ist an erster Stelle für freie Gruppen da. Sie bekommen die Einrichtungen des Hauses zur Verfügung gestellt und erhalten für ihre Aufführungen eine Abendgage. Darüber hinaus werden gemeinsame Produktionen mit den Gruppen unter dramaturgischer Begleitung der Theaterhausleiter angestrebt. Einer der vier, Jürg Woodtli, ist ein „Zürcher Gewächs“. Er hat zehn Jahre lang das dortige „Theaterspektakel“ organisiert, und für ihn muß im Theaterhaus auch deshalb professionelles Theater geboten werden, weil in der freien Szene immer mehr ausgebildete Schauspieler und Regisseure arbeiten.

Warum gehen professionelle Schauspieler in die freie Theaterszene? Was ist für sie so attraktiv am unsicheren Leben außerhalb der etablierten Spielstätten? Für Hildegard Kraus, Mitleiterin des Theaterhauses, liegt es vor allem an der Unzufriedenheit vieler Schauspieler mit ihrer Arbeitssituation an Stadt- und Staatstheatern. Sie weiß, wovon sie spricht, denn sie war lange Jahre Dramaturgin am Theater der Stadt Heidelberg: „Viele Schauspieler beklagen sich darüber, daß sie verplant werden und sich unvermittelt auf irgendeiner Besetzungsliste wiederfinden. Daraus entsteht zum Beispiel der Wunsch, mit anderen Schauspielern zusammen selbständig einen Abend zu gestalten. Das aber scheitert meistens an der Terminplanung der Theaterleitung.“ Gegenüber dieser Frustration im Beruf steht die Frustration, nicht in den Beruf hineinzukommen. Immer mehr Absolventen von Schauspiel- und Regieschulen bekommen keine Engagements mehr. Orte wie das Züricher Theaterhaus gewinnen auch in diesem Zusammenhang an Bedeutung. Daß man dort allerdings neben den freien Gruppen auch Spektakuläres wie Syberbergs/Clevers Marquise von O. einlädt und bezahlt, sorgt jetzt schon für Unmut. Hans Peter Müller, ausgebildeter Schauspieler und künstlerischer Leiter von „Coprinus“, einer der ältesten freien Gruppen Zürichs, sieht in solchen Plänen bereits eine Zugeständnis an die Stadt. Geld müsse eingespielt werden, und mit solchen Prestigeveranstaltungen solle der Ort aufgewertet werden. „Coprinus“ probt gerade Daniel Wiggers Aufstand der Verwöhnten, Mitte des Monats ist Uraufführung im Theaterhaus. „Coprinus“ selbst verwöhnt zu nennen wäre übertrieben. Die Theatergruppe zählt aber dennoch zu den Privilegierten unter den etwa zwanzig freien Züricher Gruppen: Sie erhält jährlich 250.000 Franken von der Stadt, so daß jedem Mitglied der Gruppe monatlich 2.300 Franken bezahlt werden können. Trotzdem ist Müller mit der Situation in Zürich unzufrieden. Die einst unruhige Insel in der saturierten Schweiz ist zu Tode beruhigt worden. Das Klima der Stadt hat sich seit den Jugendunruhen gewaltig verändert, und das ist auch an den freien Gruppen nicht spurlos vorübergegangen: „Es ist wenig Kraft da und wenig Wille, langfristig zu denken und kulturpolitisch etwas zu verändern.“

Zur Eröffnung des Theaterhauses wollte man ein gemeinsames Projekt auf die Beine stellen, aber die Gruppen waren nicht unter einen Hut zu bringen. In Zürich gibt es beispielsweise auch die „Rote Fabrik“. Dieses Theater wurde in der unruhigen Zeit der Stadt „auf der Straße erkämpft“, erzählt Hans Peter Müller. Was heute im Theaterhaus Gessnerallee versucht wird, habe damit nichts mehr zu tun. Daß sich die Stadt damals aber nicht mit den sozialpolitischen Problemen auseinandersetzte, die hinter den Unruhen steckten, das wirkt sich heute aus - auch auf das Theaterhaus. Rückzugstendenzen der einst Aktiven, Drogenkonsum, massive Armut und eine extreme Wohnungsnot kennzeichnen das Bild der Stadt. Vielleicht ist dieser Zustand auch dafür verantwortlich, daß eine schon vor dem Theatersaal eröffnete Kneipe „Gessnerallee“ jeden Abend gerammelt voll ist, während die Theateraufführungen um ihr Publikum kämpfen müssen.

Corinna Glaus ist Mitglied des Theaterrats, eines Gremiums, das zwischen der Kulturbehörde der Stadt und dem Theaterhaus vermittelt. Sie arbeitet für das Schweizer Fernsehen, schreibt gerade an einem Drehbuch und will mit einer freien Gruppe das bereits von Tabori inszenierte Massada herausbringen. Für sie wurde diese Situation durch eine „Politik des Totschweigens“ herbeigeführt. Ein Resultat dieser Politik bekommt das Theaterhaus jetzt hautnah zu spüren: Die Stadt will direkt neben der Reithalle ständige Wohncontainer aufstellen - für Obdachlose und Drogenabhängige. Zu Recht verweist Corinna Glaus darauf, daß man einem Projekt wie der dem Theaterhaus Gessnerallee nicht die sozialpolitischen Versäumnisse der Stadt auflasten dürfe, während es mittels knapper Finanzierung in der Schwebelage eines Provisoriums gehalten werde. Bleibt abzuwarten, ob sich dieses Problem im Programm des Theaterhauses niederschlagen wird. Denn was anders als die akuten sozialpolitischen Probleme der Stadt sollte in solch einem ambitionierten Theaterraum aufgegriffen werden? Vielleicht würde dann in einer Diskussionsveranstaltung auch ein Vorschlag aus dem Sozialamt der Stadt zur Sprache kommen: Man könne doch zwischen Theaterhaus und Wohncontainern eine Mauer errichten oder Stacheldraht ziehen.

Jürgen Berger

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