: Zwischen den Fronten
■ Von Warschau nach Wilna, September/Oktober 1939 - aus Hermann Kruks Fluchtbericht
Maria Kühn-Ludewig
Ich bin Hermann Kruk zum erstenmal Ende 1939 oder Anfang 1940 in der Wilnaer Kinderbibliothek begegnet, wo ich damals arbeitete. Unter den Besuchern fiel er durch seine großstädtische Kleidung und sein energisches, kluges Gesicht auf. Er kam wegen eines Buches, aber zugleich beobachtete er unsere Arbeit und fragte interessiert nach Einzelheiten. Ich wußte nicht, wer er war, und erfuhr erst später durch unsere Leiterin von seinen Verdiensten um die bedeutende 'Grosser -Bibliothek‘ in Warschau.“ - So erinnert sich die langjährige Bibliothekarin des Yivo-Instituts (Jiddisches Wissenschaftliches Institut, gegründet 1925 in Wilna), Dina Abramowicz, heute in New York.
Wie hatte es den Flüchtling aus Warschau mit vielen anderen in das damals noch vom Krieg verschonte Wilna (heute: Vilnius) verschlagen? Er selbst berichtet darüber in Tagebuchnotizen, die er im Januar 1940 in einem 30seitigen Manuskript zusammenfaßte und im Juli an Freunde in New York schickte. Dort hat sich das Original im Yivo-Institut erhalten. Aber zunächst noch ein paar Worte zum Autor selbst.
1897 in der Kleinstadt Plock als Ältester von drei Geschwistern geboren, verlor Hermann Kruk schon 1914 seinen Vater und hatte in den folgenden Jahren zusammen mit der Mutter für den Unterhalt der Familie zu sorgen. Als Autodidakt fand er zur Arbeiterbewegung, wurde in der Begeisterung für die russische Revolution Mitglied der kommunistischen Partei und widmete sich auch während seines Militärdienstes der revolutionären Propaganda unter den Soldaten. Ab 1920 lebte er in Warschau, verließ etwa 1921 die KP und wechselte zur jüdisch-sozialistischen „Bund„ -Partei (d.i. „Allgemeiner jüdischer Arbeiter-Bund in Litauen, Polen und Rußland“, gegründet 1897 im damals russischen Wilna), für deren vielfältige Jugend- und Kulturarbeit im jüdischen Proletariat Warschaus er sich zunehmend engagierte. 1930 übernahm er für die „Kulturliga“ seiner Partei die Leitung der 1915 gegründeten und nach dem polnischen Bund-Politiker Bronislaw Grosser (1883-1912) benannten Bibliothek, die mit mehr als 30.000 Bänden bald ein Zentrum jüdischer Arbeiterbildung wurde. Kruk schrieb in jiddischen und polnischen Zeitschriften und fand auch unter polnischen BibliothekarInnen Unterstützung für seine kulturellen Aktivitäten.
Nach dem frühen Tod seiner ersten Frau hatte Kruk Mitte der dreißiger Jahre wieder geheiratet. Er schien mit Anfang 40 privat und beruflich eine klare Lebensperspektive vor sich zu haben, als der Zweite Weltkrieg begann.
„Unruhe und Panik verbreitete sich in der Stadt; am 5. Kriegstag zwei Bombenangriffe auf Warschau“, schreibt Pinkhas Schwartz, Kruks jüngerer Bruder, in seinen Erinnerungen. „Es sprach sich - trotz Zensur - bald herum, daß Regierung und Generalstab die Stadt verlassen wollten, was die allgemeine Panik noch steigerte. Besonders die jüdische Bevölkerung wurde von Angst ergriffen und alle diejenigen, die sich politisch oder sonstwie offen antifaschistisch betätigt hatten.“ Am späten Abend des 5. September bringt Kruk seinen Bruder zum Sammelpunkt, von wo aus dieser mit den ersten Politikern und Journalisten Warschau verläßt. Auf dem Rückweg durch die unheimlich fremd wirkenden, verdunkelten Straßen kommen auch Kruk selbst Fluchtgedanken. Am nächsten Morgen faßt er den Entschluß, sich nach Osten zum Bug durchzuschlagen, da man allgemein vermutete, dort werde es zur entscheidenden Schlacht gegen die Deutschen kommen.
In der Annahme, er werde in wenigen Tagen einberufen, läßt Kruk seine Frau in Warschau zurück. Sie sehen sich nicht wieder: Während Kruk ab Oktober seine Frau nach Wilna nachzuholen versucht und selbst in den folgenden Monaten bis Juni 1941 alle Ausreisemöglichkeiten verstreichen läßt, geling es seiner Frau zwar, mit anderen Frauen im Januar 1940 Warschau zu verlassen, scheitert aber an der litauischen Grenze; sie überlebt in einem sibirischen Lager und wandert nach dem Krieg nach Israel aus.
Zu Kruks letzten Amtshandlungen am Morgen des 6. September gehört die Übergabe der Bibliotheksschlüssel an seinen Mitarbeiter Moische Suffit, der in Warschau zurückbleibt. Im Oktober kann er den wichtigsten Teil der Bestände vor der Beschlagnahmung durch die deutsche Besatzung noch an einige Genossen verteilen; die Räume der Bibliothek, die im späteren Ghettobezirk liegen, werden 1942/43 mit diesem zerstört.
Mittwoch, 6. September: Zusammen mit Kruk wollen zwei Freunde, Ber Rosen und Marek Koszyk, und drei weitere Bekannte die Stadt verlassen. Einer hat einen Pferdewagen organisiert, mit dem sich die Gruppe schließlich um vier Uhr nachmittags in Bewegung setzt.
„Mit uns fährt der Wagenbesitzer“, schreibt Kruk, „er will in seine Ziegelei, die an unserem Weg liegt. Wir haben den schmutzigen Kohlenwagen mit Heu ausgelegt und schätzen uns glücklich, nicht zu Fuß gehen zu müssen. Aus der Siennastr. biegen wir in die Zelazna, dann in die Jerozolimskie-Allee zur Poniatowski-Brücke. Überall große Unruhe, Nervosität, viele mit Gepäck beladene Flüchtlinge, die über die Brücke aus der Stadt drängen, aber in dem Gewühl kaum vorwärts kommen. Direkt an der Brücke hat man Luftabwehrraketen postiert und auf der Praga-Seite Panzersperren errichtet. Um den Skaryszewski-Park wimmelt es von Autos, Fuhrwerken, Militärfahrzeugen, Radfahrern, sehr viel Polizei und Fußgängern. Wir biegen hinter der Brücke rechts ab nach Otwock“, auf die Straße Richtung Lublin. „Wieder ein Luftangriff: raus aus dem Wagen und in Einfahrten oder Hauseingängen Schutz suchen. Der Angriff dauert eine halbe Stunde. Als es ruhiger wird, fahren wir weiter, d.h. fahren ist kaum möglich, denn die Chaussee ist von Militärtransporten, Überlandbussen, Löschzügen der Feuerwehr u.a. Fahrzeugen völlig verstopft. Kaum sind wir angefahren, müssen wir wieder 15-20 Minuten stehen. Zwischen den Wagen viele Radfahrer und Hunderte, Tausende Fußgänger. Der Staub reizt Augen und Kehle. Unsere Pferde wollen den ungewohnt schweren Wagen nicht mehr ziehen. Der Weg zur Ziegelei, die 3 km hinter Otwock liegt, dauert sonst 2 Stunden, aber für uns das Vierfache: müde, erschöpft und verunsichert erreichen wir um 2 Uhr nachts die Ziegelei.“ Die Flüchtlinge übernachten mehr schlecht als recht im Büro der Ziegelei, Zweifel am Sinn des ganzen Unternehmens kommen auf.
Donnerstag, 7. September: „Unsere Stimmung hebt sich erst wieder, als wir morgens das Telefon im Zimmer entdecken und eine Verbindung mit Warschau bekommen. Als erster spricht Freund Koszyk: Seine Frau weint und bittet ihn, nach Hause zurückzukommen. Unter diesem Eindruck sagen sich alle außer mir -: auf! zurück nach Warschau! Als ich mich zu Hause melde, ist meine Frau völlig überrascht von dem unerwarteten Anruf. Aber ohne zu zögern, rät sie uns, 'zu laufen, soweit die Füße tragen‘. Dann spricht Marek noch einmal mit seiner Familie, die ihm jetzt auch zur Fortsetzung der Flucht zuredet.“ Später erfahren sie, daß morgens über Radio verbreitet wurde, alle Männer hätten Warschau zu verlassen.
Mit einem zweiten Wagen und drei frischen Pferden begibt sich die Gruppe auf die ebenfalls von Flüchtlingen überfüllte Straße Otwock-Garwolin, also weiter in Richtung Südosten, nach Lublin. Den ganzen Tag Bombenangriffe, Angst und Schrecken: „Es war die Hölle.“ Pferde werden scheu, gehen mit den Wagen durch, trampeln Menschen nieder, Familien werden auseinandergerissen, hasten, verzweifelt suchend, weiter, einige verlieren den Verstand.
„Es verbreiten sich die wildesten Gerüchte. So ruft ein Hauptmann aus einem vorbeifahrenden Chevrolet: 'In Deutschland ist eine Revolution gegen Hitler ausgebrochen!‘ Aber die deutschen Bombenflugzeuge hören nicht auf, uns zu terrorisieren. Ihre Taktik: sie nähern sich in solcher Höhe, daß wir sie nicht bemerken, um dann herabzustürzen und die Chaussee im Tiefflug mit einem Kugelhagel zu überziehen.
Unser Kohlenwagen wird zerstört. Wir laden schnell die Sachen auf den kleinen Wagen, spannen die Pferde um und gehen selbst zu Fuß. Gegen 6 Uhr abends erreichen wir halbtot Garwolin.“ Hier schließen sie sich einer Flüchtlingsgruppe aus Plock an, die auch nach Lublin unterwegs ist, und fahren nachts weiter bis Ryki.
Freitag, 8. September: Als sich zeigt, daß alle Zufahrten nach Lublin gesperrt sind, nehmen sie notgedrungen die Straße nach Osten und schlagen sich bis abends zwischen immer dichter aufeinander folgenden Angriffen bis Kock durch. Sie finden sogar ein Quartier, obwohl auch diese Kleinstadt von Flüchtlingen überfüllt ist. Das zweite Ziel: ein Radio; im Arbeiterklub haben sich schon Leute um den Apparat versammelt, aber der Empfang ist so gestört, daß man den wenigen polnischen Brocken keine Informationen entnehmen kann.
Samstag, 9. September: „Als erstes versuchen wir morgens, mit Lublin zu telefonieren. Mein Parteifreund, Dr. Herschenhorn, ist selbst beim Militär, und ich kann nur mit seiner Frau verabreden, daß sie die Genossin Schapiro, die Vorsitzende des 'Bundes‘ in Lublin, in ihre Wohnung bittet und ich in einer Stunde wieder anrufen werde. Während wir frühstücken: wieder ein Angriff! Innerhalb von Sekunden haben die Leute ihre Sachen gepackt und laufen aufs Feld hinaus. Auch das Vieh in den Ställen reißt sich los und rennt ins Freie. Überall Schreie, Gebrüll. Die Juden brechen ihr Sabbatgebet ab, Frauen suchen nach ihren Kindern, die Straßen werden von Rauch eingehüllt, denn an drei Stellen der Stadt brennt es. Zudem sind die Nerven durch die ständige Angst nicht mehr die stärksten: einer aus unserer Gruppe verkriecht sich in sein Bett, weil er sich nur dort noch sicher glaubt, ein anderer bricht in hysterisches Gelächter aus, dessen Klang allein einen verrückt machen könnte.“
Eine Telefonverbindung mit Lublin kommt nicht mehr zustande, und der Telefonist erklärt dies mit den furchtbaren Bombenangriffen auf die Stadt. Die Gruppe verläßt Kock in Richtung Radzyn.
„Aber je mehr wir uns Radzyn nähern, um so deutlicher sehen wir die verheerende Wirkung der heutigen Bombardierung. An mehreren Orten steigen Feuer auf, in die Chaussee sind riesige Löcher gerissen, entwurzelte Bäume liegen kreuz und quer, zerrissene Telefonleitungen hängen nutzlos an den Masten. Alle Straßen im Umkreis von Lublin sind zerstört. Als sich zeigt, daß auch Radzyn brennt, rät man uns, nach Wischnitz zu fahren, was eine Strecke von noch einmal 50 km bedeutet. An der Weggabelung sitzt ein Bauer neben den Resten seiner gerade abgebrannten Hütte; er ist durch die Bombenexplosion taub geworden und seine Frau durch das Feuer und die Panik irr.
Die Pferde kommen kaum noch voran. Die Chaussee ist an vielen Stellen so aufgerissen, daß wir oft nebenher auf dem Feld fahren müssen, dann wieder ein Stück Straße.“
Sonntag, 10. September: Erst am Abend erreichen sie Wischnitz. Hier ist es nicht leicht, sich ein Bild von der Lage zu machen, aber von der bevorstehenden großen Schlacht am Bug wird wieder gesprochen. Die Gruppe beschließt, über Wlodawa (am Bug) in das südöstlich gelegene Chelm zu fahren. Noch in der Nacht kommen sie bis zu einem Dorf in der Nähe von Wlodawa.
Montag, 11. September: In Wlodawa selbst trifft die Gruppe auf viele Bekannte aus Warschau und Lublin. Die jüngeren Genossen wollen „zurück nach Warschau auf die Barrikaden“, Genaues weiß niemand. „Wir beschließen, das weitere irgendwo in einem Dorf zwischen Wlodawa und Chelm abzuwarten.“
Dienstag, 12. September: Morgens erreichen sie das Dorf Luty und bleiben hier über das jüdische Neujahrsfest, Rosch-Haschanah, weil sie auf eine jüdische Familie treffen, die sie über Nacht auf dem Heuboden einquartiert.
Mittwoch, 13. September (Rosch-Haschanah): „Zu dritt fahren wir mit einem weißrussischen Bauern nach Wlodawa, um Nachrichten einzuholen. Nebel schützt uns vor Angriffen. Der Bauer ist nicht gut auf die Polen zu sprechen: fast das ganze Dorf hat schon im Gefängnis gesessen, weil die Polen alle des Kommunismus verdächtigen. Unterwegs löst der Nebel sich leider auf, und bei der Ankunft in Wlodawa fallen wieder die ersten Bomben.“ Im allgemeinen Chaos ist nichts in Erfahrung zu bringen, also geht es nachts weiter nach Chelm.
Donnerstag, 14. September: Auch hier dichtes Gedränge ratloser Militärs und Flüchtlinge zwischen brennenden Häusern. „Plötzlich stockt das Geschiebe. Wir erkennen zuerst einen niedergerissenen Zaun. Im Garten eines noch brennenden Hauses liegt ein abgeschossenes deutsches Flugzeug. Irgendwo ein blanker Stiefel, einige Meter weiter Teile eines verkohlten Körpers, eine Hand, auf dem Kopf verschmorte Haarreste, am Körper kein Kleidungsstück bis auf einen Ledergürtel, Geruch von verbranntem Fleisch.“
Die zufällige Begegnung mit Koszyks Bruder, einem Fähnrich, verhilft der Gruppe zur vorläufigen Weiterreise per Bahn „im Schutz der polnischen Armee“. In einem Pferdewaggon geht es schließlich abends in Richtung Osten. „Der Zug fährt so langsam, daß Leute mühelos aufspringen können. So findet sich auch ein Soldat bei uns ein, der sofort heftig zu schimpfen beginnt: auf Polen, die polnische Armee, die Offiziere. Man habe ihn von einer Front an die andere kommandiert, überall seien die Offiziere die letzten beim Kampf und die ersten auf der Flucht gewesen, es herrsche völlige Desorganisation! Unser Fähnrich, der solch massive Kritik nicht fassen kann, reagiert gereizt. Als der Soldat in der Dunkelheit schließlich die Offiziersuniform erkennt, springt er ab. Er läßt uns nachdenklich zurück.“
Freitag, 15. September: Bis zum Morgen hat der Zug 36 km zurückgelegt und steht am Bahnhof einer Nebenstrecke. Da schon andere Züge hier bombardiert wurden, will der Fähnrich mit seinen Soldaten den Zug verlassen; die Flüchtlinge schließen sich an. „Wir machen uns zu Fuß auf den Weg. Wie bisher: allgemeine Hektik und Angst. Über uns donnernder Fluglärm, hinter uns bebt die Erde, Rauch steigt auf, Schreie. Also besser querfeldein als auf der Straße. Es ist warm, kein Tropfen weit und breit. Wir fühlen uns so verloren wie in einer Wüste.“ Um Mitternacht erreichen sie Kowel, etwa 90 Kilometer östlich von Chelm.
Samstag, 16. September: Hier melden sich die meisten der Soldaten bei der örtlichen Kommandantur. Andere, wie Fähnrich Koszyk, meinen, es sei schon alles verloren und die Widerstandskraft der polnischen Armee gebrochen. Um die sechs Flüchtlinge aus Warschau bildet sich eine Gruppe von zusammen zwölf Personen, die abends mit Pferd und Wagen Kowel Richtung Osten verläßt: über Melnize nach Sarny.
Sonntag, 17. September: In Melnize empfängt sie unerwartete jüdische Gastfreundschaft, aber auch große Unsicherheit über die militärische Lage. Dazu Kruk: „Ein junger Mann nimmt mich mit zu einem Radio und erzählt von Gerüchten, die Bolschewiken wollten Polen zu Hilfe kommen. Das Radio bringt gerade die Rede Molotows, aus der sich klar ergibt, daß die Bolschewiken vielmehr die westliche Ukraine und Weißrußland von polnischer Herrschaft zu befreien gedenken. Ich zittere am ganzen Körper unter dem Eindruck dieser Nachricht und gehe nur zögernd zurück zu meinen Leuten. Noch bis in die Nacht sitzen wir um das Radio und warten auf neue Nachrichten, alle Gespräche drehen sich um die Molotow-Rede.“
Montag, 18. September: Der Fähnrich erfährt, daß die sowjetische Besetzung des ganzen Gebietes hier unmittelbar bevorsteht; auch bei Entwaffnung sei kein Widerstand zu leisten, aber alle Militärs sollten sich in der polnischen Garnison von Luzk einfinden. Also nach Luzk. „Auf der Chaussee nach Luzk“ - wo Feldarchive vernichtet, Rüstungsteile zerschlagen werden, Soldatenkleidung an Passanten verteilt wird - „wird uns klar, daß der Krieg endgültig verloren ist. Verwirrung, Ratlosigkeit. Meinem Freund kommen die Tränen, leise sagt er: 'Verloren, alles verloren...‘ Entgegenkommende Flüchtlinge rufen uns zu: „Wohin wollt ihr? Wozu nach Luzk? Geht nach Hause, es ist alles zu Ende: Demobilisierung!“
Dies war keineswegs das Ende der Flucht, ein Zuhause in Polen gab es nicht mehr. Vom 19. September bis zum 6. Oktober blieben Kruk und seine Gruppe in Luzk, bekamen Kontakt mit Kruks Bruder und anderen Warschauer Flüchtlingen im nahegelegenen Rowno und fuhren von dort am 8. Oktober zusammen nach Wilna, das sie am 10. Oktober erreichten.
Während einigen von ihnen, wie Kruks Bruder Pinkhas Schwartz, 1940 die Ausreise in die USA gelingt, blieb Hermann Kruk in Wilna, wo er für jüdische Hilfsorganisationen arbeitete und gelegentliche Reportagen für deren Publikationen schrieb. Beim Einmarsch der deutschen Wehrmacht im Juni 1941 konnte er zunächst untertauchen, wurde aber am 6. September mit den Wilnaer Juden ins Ghetto getrieben.
„Ich halte alles fest. Was kann man sonst tun? Solange wir hilflose Opfer des Faschismus sind, solange ist es unsere Pflicht, zur Feder zu greifen. Mein Notizbuch soll alles sehen, alles hören und soll ein Mahnmal sein für die unbeschreibliche Katastrophe in dieser schrecklichen Zeit.“ So läßt der israelische Dramatiker Joshua Sobol in seinem Stück Ghetto (1984) den Sozialisten und Chronisten Hermann Kruk sprechen: Kruk ist es nicht nur zu verdanken, daß es im Wilnaer Gehtto 1941-1943 eine Bibliothek gab, sondern er hat auch in seinem Tagebuch die Vernichtung der Juden Wilnas, die Zerstörung des „litauischen Jerusalem“ sorgfältig dokumentiert. Den denkbar widrigsten Lebensumständen abgerungen, wollte Kruk der Sinnlosigkeit des Elends und Sterbens im Ghetto, dem Nichtwissen und Vergessen der Zeitgenossen und Nachwelt seine Arbeit entgegensetzen, denn die Vernichtung würde erst dann endgültig triumphieren, wenn es keine Erinnerung an sie mehr gäbe, Opfer und Täter einem fragenden Interesse entzogen wären.
„Zum letzten Mal habe ich Hermann Kruk an jenem Schicksalstag der Liquidierung des Wilnaer Ghettos gesehen“, erinnert sich Dina Abramowicz, Mitarbeiterin der Ghettobibliothek und spätere Partisanin, „auch in diesem tragischen Moment wirkte er weder erschüttert noch verzweifelt, sondern mutig und gefaßt; er wäre zu kämpfen bereit.“ Am 23. September 1943 wurde Kruk in ein estländisches Arbeitslager bei Reval/Tallinn deportiert. Kurz vor der Befreiung durch die Rote Armee im September 1944 ermordete die abziehende SS-Besatzung alle Häftlinge.
Kruks Aufzeichnungen aus Wilna und Estland sind auf erstaunliche Weise zum größten Teil erhalten geblieben. Eine deutschsprachige Ausgabe gibt es bis heute nicht.
Zur Biographie:
Pinkhas Schwartz: Hermann Kruk (1897-1944), in: Hermann Kruk, Bibliothekar und Chronist im Ghetto Wilna, Hannover 1988 ('Laurentius'-Sonderheft), S. 1-46
Dina Abramowicz: Erinnnerungen an Hermann Kruk, in: 'Laurentius‘ (1989, H. 1), S. 51-58
Aus dem Werk:
H. Kruk: Diary of the Vilna Ghetto, in: Yivo Annual of Jewish Social Science, Vol. 13, New York 1965, S. 10-78
H. Kruk: Das Leben überwindet alles, in: Joshua Sobol: Ghetto, hrsg. von Harro Schweizer, Quadriga Verlag, Berlin 1984, S. 26-41
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