: „Ein sonderbarer Bäckermeister“
■ Hoch klingt das Lied vom braven Mann, der nach der „Kristallnacht“ zu seiner jüdischen Kundschaft hielt. Zugleich ein Bericht über die Normalität der vielen Nutznießer am deutschen Judenmord
H.D.Heilmann
Im zweiten Heft des 'Stürmers‘ vom Januar 1939 findet sich unter der Überschrift „Ein sonderbarer Bäckermeister“ folgende Notiz:
„Daß es auch in der Reichshauptstadt noch höchst sonderbare Zeitgenossen gibt, zeigt folgender Vorfall: In der Bleibtreustraße 41 zu Berlin-Charlottenburg betreibt der Nichtjude Leschnick eine Bäckerei. Als Verkäuferin beschäftigt er ein deutsches Mädchen. Unter seinen Kunden befindet sich auch die Jüdin Lagro aus der Knesebeckstraße 68/69. Diese Jüdin kam am 10.November 1938 in das Geschäft des Bäckermeisters Leschnick gestürzt und schrie: 'Haben Sie schon die zerschlagenen Fensterscheiben gesehen?‘ Die Verkäuferin antwortete ruhig: 'Das war recht so!‘ Der Jüdin bleibt vor Schreck die Spucke weg. Als sie sich wieder gefaßt hatte, schrie sie: 'So eine Unverschämtheit! Ich bin empört! Kein Stück kaufe ich in Ihrem Laden mehr! Hiermit bestelle ich die Brötchen ab!‘ Dann machte sie kehrt und raus war sie aus dem Laden.
Das Geschrei der Jüdin hatten auch der Bäckermeister Leschnick und seine Frau gehört. Sie fragten die Verkäuferin, was los gewesen wäre. Diese erzählte den Vorgang und glaubte, bei dem Bäcker Schutz zu finden. Aber sie irrte sich. Der Bäckermeister Leschnick zwang die Angestellte, in die Wohnung der Jüdin zu gehen und sich dort zu entschuldigen! Das Mädchen tat dies schließlich auch, kündigte aber sofort. Nun kam die Jüdin Lagro wieder befriedigt in das Geschäft und holte wieder ihre Brötchen ab. Vielleicht nimmt sie den Leschnick eines Tages als jüdischen 'Hofbäcker‘ mit ins Gelobte Land.“
Bleibtreustraße 41, wo „der Nichtjude Leschnick eine Bäckerei“ betreibt? Das kann nur die „Flamingo-Bar“ sein, die entlang dem Berlinförderungsgesetz in die Geschichte hinein rückwärts sicher schon sechsmal den Namen gewechselt hat. Und dann wären wir immer noch nicht bei der Bäckerei Leschnick angelangt!
Das Haus Bleibtreustraße 41, erbaut 1897, mit Eckrestaurant und Bäckerladen, gehört 1937 einem Danziger, alsbald Warschauer Kaufmann, dessen ostjüdischer Name Lurje von der Berliner Baupolizei ständig falsch geschrieben wird: Lurge, Luvie, Loriel. Im Januar 1937 denunzierte die Parteigenossin Hedwig Lindenau ihren Vermieter. Ende 1937 wird dem Charlottenburger Grundbuchamt mitgeteilt, daß das Haus Bleibtreustraße 41 von den Reichsdeutschen Jurtzik aus Nikolai-OS erworben wurde. Die Preisstelle für Grundstücke genehmigt den Kaufpreis von 124.000 RM, was für ein Eckhaus mit Restaurant und Ladenwohnung unter staatlichen Betrugsbedingungen noch einigermaßen angeht.
Der 35jährige Bäckermeister Paul Leschnick hatte den Bäckereibetrieb in der Bleibtreustraße 41 1929 von seinem Vorgänger Vogel übernommen. Leschnick war nicht nur gut mit seinem (jüdischen) Hausbesitzer ausgekommen - das jüdische Element kaufte auch gerne gerade bei ihm. Damals existierten allein in der Bleibtreustraße drei Bäckerläden; dazu einer in der angrenzenden Pestalozzistraße, einer in der Knesebeckstraße zwischen Kurfürstendamm und Savignyplatz.
Die „Jüdin Lagro“ jedenfalls wird gewußt haben, warum sie beim Bäckermeister Leschnick kaufte.
Die „Verjudung“ der Bleibtreustraße läßt sich (heute) nicht nur an den Familiennamen der Hausbewohner ablesen. In Nummer 50 residierte das „Kartell jüdischer Verbindungen“ (KJV), das 1914 durch Fusion des Bundes jüdischer Korporationen mit dem Kartell zionistischer Verbindungen entstanden war (keine deutsche Studentenverbindung, die auf sich hielt, nahm Juden auf). Hier war das Verbindungshaus mit Studentenwohnheim und hier erschien das Organ des KJV 'Der Jüdische Student‘. Bleibtreustraße 45 residierte bis 1931 die „Vereinigung für das liberale Judentum“. Das Haus Bleibtreustraße 2 gehörte bis zur Auflösung (1942) der Jüdischen Gemeinde; hier hatte das orthodoxe Judentum des Berliner Westens ein Zentrum. Von 1937 bis 1941/42 befand sich in diesem Haus die Wohlfahrts und Pflegestelle - Bezirk Nordwest-Charlottenburg der Jüdischen Gemeinde. Der Rechtsanwalt Dr.Kurt Georg Kiesinger, der im Krieg für den drahtlosen Dienst des Reichsrundfunks die Radiopropaganda incl. Judenhetze für das besetzte, neutrale und verbündete Ausland gestaltete, wohnte seit 1937 in der Bleibtreustraße 46; daran ist auch die bezirkliche wie innerstädtische jüdisch-deutsche Mieterbewegung nachzuverfolgen.
In jenen Jahren muß auch der Rechtsanwalt Dr.Max Lagro, Praxis ursprünglich im Regierungs- und Bankenviertel, Mauerstraße 78/79, in den scheinbar weniger gefährdeten Berliner Westen umgezogen sein: dann privat von der Joachimstalerstrae 7/8 in die Knesebeckstraße 68/69, mit Ehefrau Etelka, geb. Gross, und Sohn Wolfgang: die „Jüdin Lagro“, Stammkundin beim Bäckermeister Leschnick in der Bleibtreustraße 41.
Den (heute) unglaublichen Vorfall am Tage nach der „Kristallnacht“, an dem noch überall in Berlin geplündert wurde, berichtet der 'Stürmer‘ korrekt. Der Sohn des Bäckermeisters bestätigt alles. Sonderbar ist nur, daß der 'Stürmer‘ dafür bis zum Januar 1939 braucht. Hat die Verkäuferin vermutlich zuerst die Ortsgruppe informiert, die dann beratschlagt haben wird, wie man den mißliebigen Bäckermeister am besten an den Karren fahren kann. Leider weiß niemand mehr den Namen dieser Verkäuferin.
Bäckermeister Leschnick wurde aufgrund der Denunziation seiner Verkäuferin bei der Berliner Gestapo vorgeladen und von frühmorgens bis spätabends verhört; als er entlassen wurde, war das schmiedeeiserne Tor bereits zu und unbesetzt, so daß der Beamte, der versucht hatte, Leschnick mürbe zu machen, ihn selbst hinauslassen mußte.
Für deutsche Verhältnisse allgemein liegt das Bemerkenswerte dieses „Vorfalls“ zunächst und allein in der Wahrung des Anstands eines Einzelnen, eines Bäckermeisters, seinem Kunden gegenüber; vielleicht sogar des Bäckermeisters einer Kundin gegenüber. Das einzige, was der Bäcker Leschnick an seinem Verhalten nach der Denunziation änderte war, daß er, anders als vorher, nach Ladenschluß die Jalousien herunterließ, weil zu befürchten war, daß man ihm die Schaufenster einwarf. Mit „Heil Hitler“ hat er auch danach nie gegrüßt.
Etta von Oertzen, Ruth Andreas-Friedrich und Inge Deutschkron haben nach Kriegsende von den Bäckern aus der Kudammgegend berichtet, die an Sternträger heimlich abgaben oder sich anderer Verbrechen schuldig machten. Paul Leschnick tat das vorsichtshalber über die Backstube auf den Hinterhof hinaus. Für die Berliner Juden jedenfalls lebenswichtig waren die Bäcker, denn (Grau-)Brot war schließlich fast das einzige, von dem sich dieser schon vor der Deportation fast auf Null gebrachte Bevölkerungsteil ernähren konnte.
Leschnick versteckte nach Beginn der Deportationen 1941 den untergetauchten Arzt Dr.Epelstein aus der Neuen Königstraße am Alexanderplatz. Nach der Befreiung saß dieser jede Woche einmal bei Leschnicks bei Kaffee und Kuchen und behandelte Leschnicks Krampfadern.
Des Bäckers Leschnick Welt außerhalb Backstube und Laden bestand im Kreise Gleichgesinnter; Kollegen und Freunde, die sich aus gemeinsamer Jugend- und Gesellenzeit im CVJM bzw. dem „Christlichen Verein Junger Bäcker“ kannten und sich im Hospiz der „Evangelischen Gemeinschaft“ in der Schlüterstraße trafen, hart an der S-Bahn, 1944 ausgebombt.
Im Krieg bekam Leschnick einen Polen und einen Holländer als Zwangsarbeiter zugeteilt - beide haben ihn noch lange nach Kriegsende besucht.
Leschnick war bis kurz vor Kriegsende als „lebenswichtiger Betrieb“ u.k. gestellt; der Einziehung zum Volkssturm entging er und verbrachte den Endkampf mit Familie und „Angestellten“ im Kellergewölbe unter dem Backofen und backte noch vor der Kapitulation Berlins für die noch einmal Davongekommenen wie für die russischen Einheiten, die im Hofgarten der Bleibtreustraße 41/42 ihre Panjepferde unterstellten.
Paul Leschnick starb 1957; sein Sohn und die Witwe Margarete führten die Bäckerei noch bis 1968. Als ich vor 20 Jahren einzog, kauften im ehemaligen Bäckerladen die Damen der K1 bei Gudlowsky Schmuck und Klamotten ihrer Großmütter. II
Das Schicksal der „Jüdin Lagro“ kann kaum verwundern und wäre an sich auch schnell erzählt. Mit Ehemann Max und Sohn Wolfgang mußte sie am 15.September 1941 aus der Knesebeckstraße in die Konstanzer Straße 59 umziehen - eines der Judenhäuser; dort wohnten sie in der dritten Etage bei Coffield, zusammen mit den Jüdinnen Klara Guttman und Ursula Kleemann (Vorschrift war ein Zimmer - zwei Juden). Vater und Sohn Lagro waren im jüdischen Arbeitseinsatz bei der Schreibmaschinenfabrik „Iris Typen GmbH“ am Kottbusser Ufer 41, einem ehemaligen Gebäude des Synagogen-Komplexes, bis sie am 23.August 1942 die „Listen“ bekamen. Da war ihr Vermieter „Coffield“ bereits „abgewandert“. Familie Lagro wurde am 5.September 1942 mit dem 19.Osttransport nach Riga deportiert. Von den Tausenden in die Ghettos des Reichskommissariats Ostland deportierten Berliner Juden überlebten acht.
Der Sohn des Bäckers Leschnick hat im Herbst 1942 mitangesehen, wie am hellichten Tag die Juden aus der Bleibtreustraße abgeholt wurden: ein offener Lastwagen, auf dem sich die Leute festhalten mußten; dann fuhr der Lastwagen ab.
Vorhandenes Vermögen als Gegenstand von Verwaltungsvorgängen vermag in jenen Zeiten Anlaß zu Unzuträglichkeiten zu geben, wenn es zu Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen den mit der Beraubung des Eigentümers befaßten Stellen kommt. Federführend bei der Beraubung der Familie Lagro ist die Vermögensverwertungsstelle beim Oberfinanzpräsidenten (OFPr) Berlin-Brandenburg, Alt-Moabit 143, zuständig für das gesamte bewegliche wie immobile Eigentum; das Finanzamt Wilmersdorf-Nord, Schlüterstraße 40 (vormals Lietzenburger Straße 18) für Einkommensteuer, Reichsfluchtsteuer, Haus und Grundbesitz; die Finanzkasse, Kurfürstendamm 193-194, Inkassostelle, für Ausgleich von Forderungen und Leistungen; die Deutsche Bank, Zweigstelle Kurfürstendamm 188/189, für Bankkonto, Aktien und Wertpapiere; das Referat Patzer (Amtsrat Georg Patzer) im RMin der Finanzen, Wilhelmstraße 1/2, für die Versilberung jüdischen Aktien- und Wertpapierbesitzes.
In den Tagen nach dem 23.August 1942 mußte die Familie Lagro die Wohnung in der Konstanzer Straße 59 verlassen, um im Sammellager Levetzowstraße auf den Abgang „ihres“ Transportes zu warten.
Am 27.Oktober kommt der Gerichtsvollzieher Dittmar vom Amtsgericht Reinickendorf-Ost als Beamter der Reichsfinanzverwaltung in die Konstanzer Straße 59, vorne III, und wohnt von 9 bis 11.15 Uhr der Schätzung des zurückgelassenen beweglichen Restbesitzes der Familie Lagro bei in Gegenwart des Beauftragten der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel, Bredow. Der Schätzwert ist 850 RM und wird der Vermögensverwertungsstelle beim OFPr (Regierungsrat Dr.Wegwart) mitgeteilt, zudem der Reichsgeschäftsstelle der Zweckgemeinschaft Gebrauchtwarenhandel, Postdamer Straße 74. Am 11. Dezember 1942 erscheint der neue Mieter der Konstanzer Straße 59, Regierungsrat Dr. phil. Hans Erich Schrade, Geschäftsführer der Reichstheaterkammer, und kauft von der Vermögensverwertungsstelle gegen bar und unterschriftlich die „beschlagnahmten Gegenstände aus dem Vermögen des abgewanderten Juden Max Israel Lagro... Wohnungsinventar laut Schätzbogen für 876,40 RM“. Am 27.Oktober 1942 hat Gerichtsvollzieher Dittmar seine „Kostenrechnung für Abschätzung der Judenwohnung Lagro... Objekt 850 RM“ eingereicht: 21,70 RM („einschließlich 2,50 RM Schlosserlohn, da von den übergebenen Schlüsseln zu einer Türe kein Schlüssel paßte“).
Am 20./21.April 1943 versteigert der Vollstreckungsbeamte Hoch im Gebäudekomplex der ehemaligen Synagoge am Kottbusser Ufer 39/40 nach vorheriger öffentlicher Ankündigung im 'Völkischen Beobachter‘ und im 'Berliner Lokalanzeiger‘ u.a. „drei Ölbilder unbekannter Meister, Landschaften“ aus dem Lagroschen Besitz. Dr. Ludwig Schmidt-Bangel, von der Deutschen Rechtsfront zugelassener Sachverständiger, Grunewald, Hubertusallee, schätzt auf 200 RM. Der Bau -Finanzier Hans Albeluhn, Skalitzer Sraße, ist mit 100 DM Meistbietender. Am 1.Juni 1943 werden der Oberfinanzkasse, Kudamm 193/94, 142 234, 25 RM aus 21 Versteigerungen von Judenwohnungen und aus Judenvermögen von der Vermögensverwertungsstelle angewiesen; darunter 100 RM aus dem Erlös der Lagroschen Landschaften in Öl. Am 12. und 17.Mai und am 19.Juni 1943 meldet sich bei der Vermögensverwertungsstelle das Finanzamt Wilmersdorf-Nord, Schlüterstraße 40, vormals Lietzenburger Straße 18: „Dr.Max Israel Lagro... Konstanzer Straße 59 wohnhaft gewesen, ist nach meinen Feststellungen evakuiert worden...“ Der Genannte schuldet der Finanzkasse 167,95 RM Einkommensteuer für das dritte und vierte (!) Vierteljahr 1942; die Reichsflucht(!)steuer legt das Finanzamt Wilmersdorf-Nord auf 7.137 RM fest. Inzwischen (31.Mai 1943) hat die Deutsche Bank Bankguthaben und Kontoinhalt Lagro dem Finanzamt Wilmersdorf-Nord angewiesen, nachdem ihr (am 12.Mai 1943) vom OFPr mitgeteilt worden ist, daß das Vermögen der außerhalb des Reichsgebietes abgeschobenen Eheleute Lagro dem Reich verfallen ist.
Ob nun die Deutsche Bank die bei ihr deponierten Aktien und Wertpapiere nicht herausgeben will; ob die Vermögensverwertungsstelle sich betrügerisch in den Besitz des Lagroschen Haus- und Grundbesitzes (Lübbener Straße 25) setzen will, wird nur ein mit derartiger deutscher Betrugsmaterie Vertrauter aufschlüsseln können. Jedenfalls fragt über ein Jahr nach der Deportation der Familie Lagro in die Vernichtungslager die Vermögensverwertungsstelle, die ja die Akte der deportierten Familie Lagro führt, beim Reichssippenamt, das die (Berliner) Judenkartei führt, an, ob etwas über den Verbleib des Dr.Max Israel Lagro bekannt sei; zuletzt (!) wohnhaft Joachimstaler Straße 7/8. Am 20.April 1944 ergeht an die Stapoleitstelle Berlin ff. Ersuchen: „Da nach den Ermittlungen der Vermögensverwertungsstelle der obengenannte Jude aus seiner Wohnung verschwunden“ sei, sei dieserseits (Polizeiangelegenheit!) festzustellen, daß das Lagrosche Vermögen eingezogen worden sei.
Der Berliner Gestapo, zuständig für die Berliner Juden, wird darauf vom zuständigen Polizeirevier 131 (Joachimstaler Straße 11) gemeldet, daß die Adresse Lagros nicht mehr zu ermitteln sei, da das Melderegister durch Feindeinwirkung ausgebrannt sei. Folglich ergeht am 9.Juni 1944 von der Gestapo an die Vermögensverwertungsstelle die Weisung, daß die Entscheidung über den Vermögensverfall Lagro nicht getroffen werden kann.
Welch üblich-üblen Trick die Vermögensverwertungsstelle damit auch immer verfolgt haben mag: Noch bis nach Kriegsende muß die Judenberaubungsstelle des OFPr ein Lagro -Konto führen und kommt an das eigentliche Geld nicht heran. Anders, was das bewegliche Eigentum von Herrn und Frau Lagro (Bücherschrank, Schreibtisch, einige (-!-) Bücher, Lexika) betrifft: Als Rechtsanwalt Lagro nebst Familie Mitte der dreißiger Jahre aus der Wohnung Joachimstaler Straße 7/8 aus - und in die Knesebeckstraße 68/69 umzieht, deponieren sie wahrscheinlich um ihre Emigration vorzubereiten - den größten Teil ihres Umzugsgutes bei der Möbelspedition Ludwig Zimmermann (gegr. 1875), Wilmersdorf, Berliner Straße 145, und bezahlen bis Juli 1942 das Lagergeld für 20 Raummeter a 4 RM, d.h. monatlich 80 RM.
Am 14.Oktober 1943 schickt die Spedition Zimmermann (offenbar wohl unterrichtet - die Rechnung für das „Umzugsgut des Juden Rechtsanwalt Dr.Lagro“ in Höhe von 1.280 RM an die Vermögensverwertungsstelle zur Begleichung. Aus dem Schreiben der Vermögensverwertungsstelle vom 7.Januar 1944 an die Spedition Zimmermann ergibt sich, daß diese Spedition mit „jüdischem Umzugsgut“ groß im Geschäft gewesen ist. „Hierdurch bitte ich Sie, das bei Ihnen beschlagnahmte Umzugsgut der nachgenannten Personen ( darunter die Person Dr.Lagro -) an Obersteuersekretär Kleibs, Bln-SW 36, Thielschufer 10/16 (ehemalige Synagoge) in der Zeit von 9 bis 15 Uhr anzuliefern...“ Die Rechnung ist über die Reichsverkehrsgruppe Spedition und Lagerei, Steinplatz 2, an die Vermögensverwertungsstelle zu richten. Am 22.Februar 1944 berechnet die Spedition Zimmermann für den Transport des Lagro-Mobiliars 264 RM und berechnet als Lagergeld für den Zeitraum vom 1.November 1943 bis 29.Februar 1944 320 RM. Thielschufer (früher Luisenufer, heute ungefähr Segitz-Damm, Fraenkelufer) war noch bis etwa 1941 Kleiderkammer II Süden der jüdischen Gemeinde, und Nummer 48-50 war Wohlfahrts- und Jugendpflegestelle (Bezirk Süden) gewesen; vermutlich gehörten sämtliche Adressen zusammen mit dem Kottbusser Ufer 39/40 (Versteigerung) und Kottbusser Ufer 41 („Iris-Type“) zum Gebäudekomplex der ehemaligen jüdischen Synagoge Kottbusser Ufer.
1942/43 befindet sich hier, Thielschufer 10/16, die Sammelstelle für das beschlagnahmte jüdische Eigentum 2.Klasse: Mobiliar und Haushaltsgegenstände (während in der ehemaligen Synagoge Münchener Straße die 1a-Gegenstände aus Synagogen, Bibliotheken, Kunstsammlungen etc. gesammelt werden).
Unter der Ägide des Obersteuersekretärs Kleibs wird am Thielschufer an die Berliner Bevölkerung gegen Bezugsschein oder Nachweis des Bedarfs aus jüdischen Lagerbeständen preisgünstig abgegeben. Auf den vorgedruckten Kaufverträgen in DINA5 unterschreibt der Käufer, daß er Gegenstände aus dem Vermögen „abgeschobener Juden“ erwirbt.
Am 4.April 1944 „kauft Rudolf Sobczyk (Kunsthändler aus Lichtenrade) aus dem Vermögen des abgeschobenen Juden Dr.Lagro“ Sessel, Kleiderschrank, Plätteisen für 221 RM. Am gleichen Tag „kauft Amtsrat (Dr.) Weil, Schlachtensee, aus dem Vermögen des abgeschobenen Juden Dr.Largo“ Wäsche, ein Bild, Zimmerschlüssel für 14 RM.
Am 14.April 1944 „kauft (Dr.) Otto Eckhardt, Bln-N20, aus dem Vermögen des abgeschobenen Juden Dr.Lagro“ Tisch, vier Stühle, einen kleinen Stuhl für 77 RM.
Am 15.Juli 1944 „kauft Regierungsrat Noak aus dem Vermögen des abgeschobenen Juden Dr.Lagro“ für 20 RM.
Bis 27.Dezember 1944 kaufen noch Baude und Möhrke („2 Bilder“) „aus dem Vermögen des abgeschobenen Juden Dr.Lagro“.
Das sind allein schon sechs Berliner, die den Nachlaß eines einzigen von 35.000 deportierten Berliner Juden fleddern, unmittelbar und cash.
Am 25.Januar 1945 gilt das bewegliche Eigentum des Juden Lagro als restlos verwertet: Obersteuersekretär Kleibs meldet laut Genehmigung des Dienstellenleiters, Oberregierungsrat Bötcher, die Nachweisung über die aus dem oben bezeichneten Posten (05205- Erm. 6023 Dr. Lagro) an Bombengeschädigte, Wehrmachtsangehörige usw. verkauften Gegenstände als erledigt.
Die „Akte Lagro“ lag bereits 1947 (anläßlich der Feststellung des Todes der Familie Lagro) und 1955/56 (als Wiedergutmachungssache) den Berliner Nachfolgebehörden vor.
Niemand scheint auch nur daran gedacht zu haben, einen der in und durch diese Akte namhaften oder namhaft gemachten Beihelfer zum Mord, staatlichen und privaten Plünderer, keinen der mitsteigernden oder abkassierenden Hyänen zur Verantwortung zu ziehen.
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