piwik no script img

Die Kasseler Bombe

■ Das Grundsatzurteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs zur Gentechnik

Das kluge Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs ist keine Ohrfeige für die Apologeten der Gentechnik. Es ist ein Tritt in die Bauchhöhle. Das Gericht hat mit seinem richtungweisenden Spruch klargestellt, was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Eine so umstrittene Technik mit so weitreichenden Konsequenzen wie die Gentechnik kann nicht mit hemdsärmligen Hau-ruck-Verfahren im rechtsfreien Raum durchgesetzt werden. Bundesseuchengesetz, Chemikaliengesetz und Immissionsschutzgesetz, die bisher mangels Alternative als Provisorium herangezogen worden waren, reichen vielleicht aus, um eine Gummifabrik oder ein Kohlekraftwerk zu genehmigen, aber sie greifen nicht, wenn es um die Veränderung von Erbmaterial an Viren, Bakterien und Pflanzen in gentechnischen Labors geht. Mit Fischernetzen lassen sich keine Fliegen fangen.

Bisher galt in der Gentechnik das Motto: Erst anwenden, dann rechtlich absichern. Folgt man dem Text der Kasseler Richter, dann gilt ab jetzt: Keine Gentechnik ohne Rechtsgrundlage und folglich keine weiteren Genehmigungen ohne die Verabschiedung des Gentechnikgesetzes. Damit steht die Arbeit aller 800 Genlabors in der Bundesrepublik zur Debatte. Wie deren Arbeit beaufsichtigt und kontrolliert werden soll, was mit den anfallenden „biologischen“ Abfällen passiert, wie die Labors zu sichern sind, dafür gibt es bisher keine klaren rechtlichen Regelungen, sondern ausschließlich unverbindliche „Richtlinien“.

Das Kasseler Gericht hat sich jetzt geweigert, diesen Zustand fortzuführen. Einen Zustand, den viele Juristen und hinter vorgehaltener Hand auch das Bundesgesundheitsamt längst für untragbar halten. Das BGA kann über dieses Urteil nur froh sein. Die Behörde hatte aus Angst, den Fortschritt aufzuhalten, schon vor Monaten die erste Freisetzung von gentechnisch manipuliertem Erbmaterial quasi „freihändig“ und mit entsprechend großen Bauchschmerzen genehmigt.

Die Branche sieht nach diesem Urteil sofort den Industriestandort Bundesrepublik in Gefahr und einen ganzen Forschungszweig stillgelegt. Abgesehen von dem verbalen Krawall hinter diesen Erklärungen: je weitreichender das Kasseler Urteil interpretiert wird, desto besser. In der Konsequenz berührt das Urteil tatsächlich die gesamte Gen -Tech-Industrie. Die Branche hat sehr genau kapiert, welche Bombe das Kasseler Urteil bedeutet.

Manfred Kriener

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen