: Fast wie beim Maskenball
■ Offener Brief an den Generalstaatsanwalt der DDR
„Es wechseln die Zeiten, da hilft kein‘ Gewalt.“ Avanciert Brechts „Lied von der Moldau“, Herr Generalstaatsanwalt, zur neuen DDR-Hymne? Leider nicht. Da fehlt noch viel. Es schlägt ja jetzt nicht nur die Stunde der Wahrheit in der deutschen DR, sondern auch die des Vergessens. Fast wie beim Maskenball: Krenz, jahrzehntelang stalinistischer Bremsklotz und Sprücheklopfer, reißt sich die Maske runter, erkennt die Zeichen der Zeit und steht - gekrönt und reformiert unschuldig vor uns allen. Schriftstellerverbandschef Kant, dieser üble Bitterfelder Weggefährt, wollte ja eigentlich schon immer der Bukowski der sozialistischen Moral sein. Alle anderen prominenten Synonyme für Machterhaltung stöhnten sicher lange vor Honeckers Generalkollaps unter der Knute des Maskenzwangs.
Um bei Brecht zu bleiben: „Verwisch die Spuren.“ Ein Fall für Sie, Herr GSA. So viele Spuren - nicht nur zur Polizeihatz auf Demonstranten am Jubeltag.
Die Masken sind noch warm. Auf die Bevölkerung sollten Sie sich bei der Spurensicherung nicht verlassen. Die berauscht sich grad‘ an bürgerlichen Freiheiten - endlich ohne Angst. Die Leute haben begriffen, daß man sich Freiheit nehmen muß. Aber der Genesene erinnert selten die Zeit seiner Krankheit. „Sind wir besoffen, tut nichts mehr weh.“ Nein, Spurensicherung fällt in Ihr Ressort. Ich weiß eine Spur, die führt direkt zu Ihnen und ist noch nicht verjährt: 17.Januar 1988, Rosa-Luxemburg-Demo. Da wollt‘ ich hin. Hatte seit drei Jahren Berufsverbot als Sänger. Rosa hätt‘ mich singen lassen. Deshalb / ich / extra 7 Uhr hoch / sonntags / mit eingerolltem Transparent zum Protest „Gegen Berufsverbot in der DDR“. Leider knapp zwei Jahre zu früh aufgestanden. Hätte auf Brecht hören sollen - die Wahrheit zur richtigen Zeit sagen.
Nun, Sie ließen mich in Untersuchungshaft stecken. Dort erfuhr ich, daß ich ein Spion sei, für den Westen - versteht sich. §99 - bis zwölf Jahre. Da zog ich es vor, rüberzumachen. Sie ließen mich ziehen. Abgekartetes Spiel. (...)
Lassen Sie mein Transit- und DDR-Einreiseverbot aufheben. Keine Angst, ich komm‘ nur für'n paar Tage. Will nachsehen, wie Sie die entthronten willfährigen Werkzeuge resozialisieren wollen. (...)
Um mit Brecht zu schließen: „Alles in mir revoltiert.“ (Von Reformen hab‘ ich bei b.b. nichts gefunden.)
Stephan Krawczyk
1988 vom Knast-Ost in den Westen entlassen
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