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Die Mauer tritt zurück Wann geht Kohl?

■ Kanzler von BerlinerInnen aus Ost und West gnadenlos ausgepfiffen / SED kündigt freie, allgemeine und geheime Wahlen an / Genscher vor dem Schöneberger Rathaus: „Grenze zwischen Deutschen und Polen nie wieder in Frage gestellt“

Berlin (taz) - In Berlin wird weiter Geschichte gemacht. Nach der sensationellen Öffnung der Grenzen und der neuen Beweglichkeit in der Stadt kamen auch gestern wieder ungezählte Menschen in Autos, Bahnen, Mopeds und zu Fuß aus der DDR und Ostberlin in den Westteil. Trotz des Massenandrangs blieben die Grenzer gelassen.

Groß-Kundgebungen in Ost und West zogen Zehntausende zum Rathaus Schöneberg, zur Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und in den Ost-Berliner Lustgarten. Vor dem Rathaus Schönberg hatte sich die Bonner und Berliner Polit-Prominenz versammelt. Höhepunkt: Der eingeflogene Bundeskanzler wurde im Gegensatz zu Momper, Genscher und Brandt gnadenlos ausgepfiffen. Keine von Kohls Plattheiten war dazu angetan, ihn aus seinem Popularitäts-Tief zu reißen. Nur durch geschickte öffentlich-rechtliche Mikrophon-Technik wurde das ganze Ausmaß der Blamage verschleiert.

Außenminister Genscher stellte auf derselben Veranstaltung neben historischen Einschätzungen nochmals seine Differenz zum Kanzler heraus: „Von uns Deutschen wird niemals mehr die Grenze zu Polen in Frage gestellt.“ Dann präsentierte er die Neuigkeit: Im innerstädtischen Grenzverkehr sollen noch am Wochenende neue Übergänge durch die Mauer gebrochen werden. Der Minister nannte fünf Namen, die zuvor von Ost-Berlin angekündigt worden waren: den Potsdamer Platz, die Glienicker Brücke, die Eberswalder Strasse, die Falkenseer Chaussee und den U-Bahnhof Jannowitzbrücke. Riesiger Jubel! Später wurden noch weitere neue Übergänge gemeldet: Die Puschkin-Allee, die Wollankstrasse und die Stubenrauchstrasse.

Mehrere hundert Ost-Berliner hatten schon am Nachmittag selbst Hand angelegt und begonnen, unweit des Sektoren -Übergangs Bornholmer Strasse die Sperranlagen zum Westen zu durchbrechen. Bewaffnete DDR-Grenzsoldaten sollen vergeblich versucht haben, die Menge aus dem Grenzgebiet zum Kontrollpunkt umzuleiten.

Peinsamer Abschluß der Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg war der mißglückte Versuch, die Nationalhymne absingen zu lassen. Doch lediglich sechs einzelne Bonner Sängerknaben, angeführt von Abgeordnetenhaus-Präsident Wohlrabes Krächzen, waren zu hören. Die Mehrheit der Kundgebungsteilnehmer brach in ein gellendes Pfeifkonzert aus und verließ dann fluchtartig den Ort des Geschehens.

Auch die Kundgebung im Lustgarten hatte ihr Bonbon. Die SED versprach offiziell „freie, demokratische, allgemeine und geheime Wahlen“ in der DDR. Diese Aussage ist Bestandteil des neuen Aktionsprogramms des ZK der SED. Als konkreter Termin wurden aber erst die nächsten Volkskammerwahlen im Frühjahr 1991 ins Auge gefaßt. Die Bevölkerung will diese Wahlen zu einem viel früheren Zeitpunkt durchsetzen.

In Westberlin war der Besucherstrom nach dem realsozialistischen Feierabend gestern nochmals angeschwollen. Staus und Menschentrauben verstopften die Grenzübergänge und stürzten den städtischen Verkehr in ein wunderbares Chaos. Verrückt, überdreht und aufgekratzt toben die Menschen durchs neue Berlin. Schon am Nachmittag hatten sich wieder 5.000 bis 6.000 Berliner vor dem Brandenburger Tor versammelt. Die Feier zur Öffnung der Grenze ging in die zweite Runde. Auf der Mauer standen, tanzten und verbrüderten sich bis zu 1.000 Berliner.

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