piwik no script img

Wenn's um Deutschland geht...

Weil daheim an der Berliner Mauer die Sektkorken knallen, hält es Kanzler Kohl nicht länger in Polen  ■  Aus Warschau Ch. Wiedemann

Stämmig und breit steht Helmut Kohl auf den Stufen des Warschauer-Ghetto-Denkmals, dort wo Willy Brandt vor 19 Jahren auf die Knie fiel. Klein und schmächtig hinter dem Kanzler Heinz Galinski und der polnische Rabbiner Menachem Joschkowitz: Sie mögen in diesem Augenblick an den Terror der Waffen-SS im jüdischen Ghetto denken - die meisten umstehenden Deutschen bewegt nur eines: „Wann fliegt Kohl zurück?“ Wenige Minuten bleiben den als Ehrengästen geladenen Überlebenden des Aufstandes, um dem Kanzler zu erläutern, was auf diesem weiten Platz einmal war. Schon zieht Kohl den Pulk von Presse, Ministern und Delegation zur Seite, um nun, zwanzig Schritte vom Ghetto-Denkmal, über Abflug und Termine zu referieren.

Michaela Geiger (CSU) blickt starr, als der Kanzler die Delegationsmitglieder „herzlich“ bittet, „doch hier der Verantwortung der Deutschen zu gedenken“. Die CSU-Fraktion hielt schon zum 1. September nichts von der Teilnahme an polnischen Gedenkstunden, wo „allein den Deutschen die Schuld in die Schuhe geschoben“ werde. Und nun soll sie hier ausharren, während zu Hause die Sektkorken zum Deutschlandlied knallen.

Angehörige der Familie Nissenbaum, die sich um die Pflege des jüdischen Kulturerbes in Polen bemühen, sammeln Visitenkarten einiger Journalisten ein - und schon ist der Versöhnungsspuk vorbei: Der Run auf die Plätze in der Kanzlermaschine hat begonnen.

Helmut Kohl, der in Polen „ein neues Blatt der Geschichte beschreiben“ wollte, kam über Nacht zu der Erkenntnis: „Ich kann doch nicht in Krakau spazieren gehen, während sich in Deutschland solche Dinge tun.“ Schon am späten Donnerstag abend im Ball-Room des Marriott-Hotels spekulierte Kohl so deutlich über die vorzunehmende „Güterabwägung“, daß die ARD ihren Spielfilm unterbrach und die polnische Regierung wußte, was die Stunde geschlagen hat, bevor sie am nächsten Morgen offiziell unterrichtet wurde. Was sind schon die Polen, wenn es um Deutschland als Ganzes geht? Denn: „Es gibt keinen Zweifel“, sagt Kohl, „daß wir im Augenblick ein Stück Weltgeschichte schreiben, wieder einmal, muß man sagen.“ Und der Kanzler, der von den Nachrichten wie vom gerade verzehrten Festessen gleichfalls gut genährt erscheint, fügt hinzu: „Ob einer groß ist als Kanzler, das ist keine Frage der Zeitgeschichte.“ Polen ist jetzt nur noch für Vergleiche gut: Ein Polen gebe es zwar vor und nach dem Sozialismus, aber „die DDR ist nach einem Sozialismus schwer denkbar“. Oder: Radikale Reformen wie in Polen seien auch für die DDR der Maßstab, nicht hingegen die Orientierung an der sowjetischen Perestroika.

Auf dem „neuen Blatt der Geschichte“ steht noch nicht viel, als der Kanzler am frühen Nachmittag überstürzt Richtung West-Berlin entschwindet: einige unterzeichnete Abkommen, vor allem aber die fortdauernde Peinlichkeit um den nun wiederum verschobenen Auschwitz-Besuch. Nachdem Regierungssprecher Klein am Donnerstag das Wort von der „Sensibilität des internationalen Judentums“ (im Protokoll später unterschlagen) prägte, hat Heinz Galinski „einen faden Geschmack auf der Zunge“. Und Klein muß sich öffentlich korrigieren: Galinski hat zum frühestmöglichen Zeitpunkt gegen einen Auschwitz-Besuch am Sabbath protestiert. Der Sabbath untersagt das Trauern, und Kohl kann nun den kommenden Dienstag zu seinem Sabbath machen.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen