: Bonn feiert Einigkeit und Recht und Freiheit
Die Ereignisse in Ost-Berlin und der Fall der Mauer haben auch Bonn erreicht / Eine große Einheit im Parlament / „Das glücklichste Volk der Welt“ / Innenministerium rechnet mit 100.000 Übersiedlern bis zum Wochenende und 1,4 Millionen in den nächsten Wochen / Grüne warnen vor einem Aufkaufen der DDR ■ Aus Bonn Gerd Nowakowski
Gerhard Jahn, mit neun Wahlperioden einer der dienstältesten und abgebrühtesten Abgeordneten im Bundestag, brachte für die SPD den Antrag zum Abbruch der Sitzung ein: „Eine Rückkehr zur Tagesordnung ist nicht vorstellbar.“ Er, dem man die Bewegung anmerkte, drückte damit an diesem Donnerstag abend die Gefühle aller Abgeordneten aus. Stehend hatten zuvor die Mitglieder aller Parteien des Bundestags die Nationalhymne gesungen. Selbst die Arbeit der Stenographen ruhte. Ausgesprochen hatte es keiner, aber in dieser Stunde, kurz nach Bekanntwerden der Öffnung der Mauer, herrschte im Saal des Wasserwerks eine Stimmung, die keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche kannte.
Gestern hatten die DDR-Ereignisse auch Bonn völlig im Griff; Termine von Pressekonferenzen aller Parteien, die Sitzung des Bundesrats unter Vorsitz von Berlins regierendem Bürgermeister Momper, kurzfristig anberaumte Fraktionssitzungen, die Ankündigungen von Parteivorstandstreffen und für den heutigen Samstag eine Sondersitzung des Kabinettes ließen Bonn, das sich zu normalen Zeiten bereits am Freitag vormittag zusehens leert, zu ungewohnter Umtriebigkeit auflaufen. In die Hektik platzte die Nachricht von der Unterbrechung der Polenreise des Bundeskanzlers. Bonn, die provisorische Hauptstadt, macht den Eindruck, als wolle sie, weitab vom Ort der historischen Ereignisse, ihre Existenzberechtigung nachweisen.
Zusammenrücken
Minutenlanger, rhytmischer Beifall hatte am Donnerstag abend die Erklärung von Kanzleramtsminister Seiters mehrfach begleitet, mit der er nach der Unterbrechung der regulären Bundestagssitzung die Öffnung der Mauer bekanntgab. Alsbald waren die Parlametarier in den Plenarsaal geströmt, der zu abendlicher Stunde gewöhnlich nur von einer Handvoll Abgeordneten bevölkert wird. Seiters unterstrich die Bereitschaft der Bundesregierung, bei einer grundlegenden Reform in der DDR „über eine völlig neue Dimension unser wirtschaftlichen Hilfe zu sprechen“. Er appellierte zugleich an die Bevölkerung der Bundesrepublik, „Solidarität in einer histrorischen Stunde unter Beweis zustellen“.
Frenetisch beklatscht wurde SPD-Chef Vogels Verweis auf den anwesenden Willy Brandt, der beim Mauerbau 1961 Berliner Bürgermeister war. Was Erhard Eppler vor wenigen Monaten in seiner jetzt schon denkwürdigen Rede zum 17. Juni 1953 ansprach, eine historische Versöhnung von Adenauers Politik der Westintegration und Brandts Aussöhnung nach Osten, verdichtete sich in diesem Moment. Jetzt, so Hans-Jochen Vogel, müßten Auseinandersetzungen zwischen den Parteien zurückgestellt werden und den Menschen aus der DDR geholfen werden. In dieser Stunde waren auch die Grünen wie selten zuvor in die illustre Runde aufgenommen. Helmut Lippelt erhielt den Beifall aller Parteien, als er den „Akt der Selbstbefreiung“ durch die DDR-Bevölkerung würdigte. Jetzt müßten alle Anstrengungen unternommen werden, damit aus jenen, die übersiedeln, Besucher werden, die in eine veränderte DDR zurückkehren. Der Fall der Mauer markiere einen Wechsel von der „Ära der Konfrontation zur Ära der Kooperation“. Notwendig seien jetzt Zeichen wie eine drastische Reduzierung des Militärhaushalts, auch um finanzielle Resourcen für die Hilfe der DDR bereitzustellen. Doch die große Gemeinsamkeit hatte ihre Grenzen: die Grünen, die am Donnerstag als einzige gegen die Rentenreform gestimmt hatten, wurden nicht zum Treffen der Fraktionsvorsitzenden eingeladen. Der Versuch, der großen historischen Stunde gerecht zu werden, macht sich in Bonn bemerkbar. Es ist zu spüren, wie im Alltag versackte Politker einen Moment lang innehalten. Fast scheint es, als gehe bereits jetzt von den Ostberliner Ereignissen eine Sogwirkung aus, als habe mit dieser Aneignung des Vaterlands durch die Demokratiebewegung in der DDR auch ein Wettstreit zwischen den beiden deutschen Staaten begonnen. Wer bislang unwidersprochen von der besten aller deutschen Demokratien sprechen konnte, muß künftig auch den Beweis dafür antreten. Bonn steht vor einem Rollenwechsel. Mancher Politiker drückt in kleiner Runde die Ahnung aus, auf dieses groß gewordene Provisorium komme in Zukunft so einiges zu.
Runder Tisch für die DDR
Die Bundeshauptstadt ist vom Gefühl aufgewallt. Nicht jeder tut das so kund, wie die Fraktionsvorsitzende der Grünen Antje Vollmer, die sagt: „Ich freu mich wie verrückt.“ Bundesratspräsident Momper spricht vom „glücklichsten Volk der Welt“, und an diesem Tag klingt es nicht einmal peinlich. Selbst dem drögen SPD-Chef Hans-Jochen Vogel sind Emotionen anzumerken. Dies ist die „Stunde Willy Brandts“, sagt er am Vormittag und hält einen Moment inne. Das sei eine „friedliche, demokratische Revolution“, von der er hoffe, es werde „die erste, die in Deutschland erfolgreich endet“. Und er scheut den Vergleich mit 1848 nicht. Die Abwesenheit des Bundeskanzlers kommt ihm zugute; viel Interesse konzentriert sich auf ihn. Vogel fordert für die DDR einen „runden Tisch“, wie er in Polen und Ungarn der „eigentliche Durchbruch zur Demokratisierung“ war.
An einem runden Tisch sollten auch in der BRD alle gesellschaftlichen Kräfte sitzen, um die Unterbringung der Aussiedler zu koordinieren, um konkrete Hilfe gegen den drohenden Zusammenbruch von Versorgungssystemen in der DDR zu leisten und die Frage der Reisedevisen zu klären. Er fürchtet den Flüchtlingsstrom als Gefährdung des Reformprozesses: „Eine DDR, die ausblutet, wird sich nicht reformieren“, ahnt er. Hilfe tut deshalb not, aber „nicht aufdrängend in der Geste des reichen Onkels“. In den Bonner Ministerien herrscht die Angst vor dem Flüchtlingsstrom. Mit 100.000 Übersiedlern rechnet das Innenministerium allein für die nächsten zwei Tage; für die nächsten Wochen werden 1,4 Millionen Menschen erwartet.
Die BRD müsse sich „sehr, sehr beeilen, Anschluß an diesen demokratischen Aufbruch zu finden“, sagt Vollmer. Sie meint damit nicht nur die Unterstützung der Reformkräfte in der DDR. Der demokratische Weg in der DDR dürfe in der BRD nicht „von Geschrei und Liedern übertönt“ werden, drückt sie ihre Sorge aus. Die DDR darf nicht das „Sizilien“ der Bundesrepublik werden, „jede aggressive Wirtschaftsstrategie ist verboten“. Geholfen werden müsse der DDR im Gesundheitswesen, auch mit westdeutschem Personal, beim Wiederaufbau der Städte, bei der Bewältigung der ökologischen Probleme. Auch könne die DDR nicht länger „Müllhalde für unsere Industrie“ sein. Sie habe Angst vor denen, die wie die Geier darauf warten, die DDR aufzukaufen, fügt die Fraktionssprecherin Oesterle-Schwerin hinzu. Am Nachmittag flog die gesamte Fraktion der Grünen nach Berlin, zum „Mitfeiern“. Es gebe auch Verhandlungen, auf der gleichen Versammlung wie Bundeskanzler Kohl zu sprechen. Gestern erscheint eine solche Mitteilung für Bonn fast normal.
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