: Leipzig nach der Reiseregelung - Eine Stadt atmet auf
Leipzig (taz) - Der Taxifahrer Jürgen Rademacher freut sich wie ein Kind: „Wollen Sie mit nach Lübeck?“ - „Wieso nach Lübeck?“ - „Ja, ich fahre da nachher hin. Um 16 Uhr geht's mit der ganzen Familie los.“ Rademacher, Mitte 40, hat seit einer Stunde seinen Paß samt Visum in der Hand. Ein Spontan -Wochenendausflug „zur Tante nach drüben“ - er kann es noch nicht glauben.
Es ist etwas „Ungeheuerliches passiert, und man sieht es in den Gesichtern: „Alle meine Fahrgäste sind heute zufrieden, das übliche Geschimpfe ist vollkomen verstummt.“ Nicht nur in den Taxis. Den Menschen, die in der Leipziger Dimitroffstraße in einer etwa hundert Meter langen Schlange vor dem zentralen Paß- und Meldeamt warten, steht die Freude ins Gesicht geschrieben. Winfried Gaumitz (46), Projektingenieur, staunt. Nach einer Viertelstunde ist er wieder draußen, mit einem Halbjahresvisum in der Hand: „Ich könnte mich jetzt ins Auto setzen und rüberfahren. Unglaublich!“. Als 12jähriger Junge kam Gaumitz mit seinen Eltern aus Heilbronn in die DDR. Nie durfte er Heibronn wieder besuchen. Eines weiß er jetzt sicher: „Ich werde nicht drüben bleiben.“
Viele sind im Blaumann gekommen. Heute fallen Hunderttausende von Arbeitsstunden aus. Die Paßbehörde legt am Samstag und am Sonntag Sonderschichten ein.
Rita und Thomas Ehlert, Stipendiaten an der Sporthochschule, wollen am Wochenende nach Berlin, um „auf der Mauer zu tanzen“. Für sie ist der Stempel im Paß ebenso unfaßbar wie für Holger Schön, einen 30jährigen Kfz -Schlossser, Mitglied der SED, der sich wie viele aus der Partei seit Wochen an den Montagsdemonstrationen beteiligt. Schön - „Ich bereue den Eintritt in die SED nicht“ - glaubt, daß die SED Vertrauen nur zurückgewinnen könne, wenn alle Privilegien radikal abgeschafft würden. Doch das wird nach Meinung von Gaumitz längst nicht erreicht werden. „Endlich freie Wahlen und Aufgabe des Machtmonopols der SED“ sei das mindeste, was die Leipziger jetzt forderten.
Jetzt hoffen alle, daß die Freizügigkeit dämpfend auf die in den letzten Wochen offensichtlich zunehmende Aggressivität der Montagsdemonstranten gegenüber der SED wirkt. Darum sorgt sich insbesondere auch der neugewählte autonome Studentenrat in der Karl-Marx-Uni. Aus Angst vor einer drohenden gewalttätigen Eskalation waren etwa 150 StudentInnen am späten Donnerstag abend zum SED-Bezirksbüro und zum Rathaus der Stadt marschiert, um von der SED die Absetzung einer für Samstag geplanten Demonstration in der Innenstadt zu verlangen. Wenn dort die SED aufmarschiere, werde es mit Sicherheit zu Gewalttätigkeiten von seiten rechtsradikaler Skinheads und alkoholisierter Fußballfans kommen. Die Ablehnung, ja der Haß auf die SED, sei, so erzählt Torsten Klatt, der selbst Mitglied der SED ist, inzwischen aber längst nicht mehr auf die extremistischen Gruppen beschränkt. Die Demo „wäre als Provokation“ aufgefaßt worden. Gewalttätige Auseinandersetzungen aber, so die Befürchtung der StudentInnen, hätten „die Gewehr bei Fuß stehenden Stalinisten auf den Plan gerufen“.
Noch am Donnerstag gelingt den StudentInnen in Leipzig etwas bis dato schlicht Unvorstellbares: Nachdem vor Ort die Partei nicht bereit war, einen Demonstrationsaufruf aus der Leipziger Volkszeitung herauszunehmen, schafften es zwei Kommilitonen, den bei der ZK-Tagung in Berlin weilenden Bezirkschef Roland Goetzel spät in der Nacht zu erreichen. Er entscheidet kurz danach im Verein mit den örtlichen SED -Größen, den Demoaufruf nicht zu drucken.
Als diese Nachricht im Foyer des Leipziger Rathauses gegen 24 Uhr verkündet wird, bricht unbeschreiblicher Jubel aus. Es ist ein Erfolg, von dem Leipzig profitieren wird.
Walter Jakobs
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