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Die DDR öffnet neue Grenzübergänge

■ Hunderttausende nehmen die Möglichkeit von Besuchen in West-Berlin und der Bundesrepublik wahr

Berlin (ap/dpa/afp/taz) - Die Zahl der Menschen aus dem Osten Berlins, die die sensationelle Öffnung der Grenzen durch die Führung der DDR zu einem Kurzbesuch im Westteil nutzen, hat nach Arbeitsschluß am gestrigen Tag wieder stark zugenommen. Zehntausende von DDR-Bürgern waren tagsüber zu Stippvisiten in den Westteil gekommen, nachdem es in der Nacht zuvor zu volksfestartigen Freudenfesten an den innerberliner Grenzübergängen, im Ostteil der Stadt und im Westen insbesondere am Kudamm gekommen war. Die Westberliner Polizei hatte schon am frühen Freitag Morgen den Versuch aufgegeben, die Grenzwechsler zu zählen. Für das kommende Wochenende wird mit einem Ansturm von hunderttausenden Besuchern aus dem Osten gerechnet. DDR-Innenminister Dickel teilte gestern Nachmittag in der Aktuellen Kamera mit, daß die DDR in Verhandlungen über weitere Grenzübergänge mit dem West-Berliner Senat sei. Auch die verkehrstechnische Anbindung an S- und U-Bahnen sowie an Bus-Linien und die Öffnung weiterer Übergänge nach Westdeutschland werde geprüft. Der Regierende Bürgermeister Momper teilte mit, daß am Abend weitere Übergänge in Berlin geöffnet werden. Dickel betonte, daß die Regelung zur Öffnung der Grenzen „von Dauer“ sei. Darauf könnten sich die DDR-Bürger verlassen.

Offenbar überrascht von dem Ansturm auf die Mauergrenze, war von der Entscheidung des ZKs der SED keine Rede mehr, daß Privatbesuche vorher bei den Ost-Berliner Meldebehörden beantragt werden müssen. Es reichte der Personalausweis, und auch auf die Kontrolle dieser Papiere verzichteten die DDR -Grenzer bald gänzlich. Diese durch die Praxis erzwungene Handhabung der Ausreise aus der DDR soll nach vorliegenden Informationen noch bis einschließlich Sonntag gelten. Die bisher in den Westteil der Stadt gekommenen Ost-Berliner sind zum allergrößten Teil in der Nacht und am Morgen wieder zurückgekehrt. Schätzungen besagen, daß zum jetzigen Zeitpunkt rund zehn Prozent vom Kurztrip nicht zurückkehren wollen.

Bundesdeutsche Behörden und Institutionen bereiteten sich gestern mit Hochdruck darauf vor, für Aussiedler Notunterkünfte und für Kurzbesucher Informationen und Hilfen bereitzustellen. Bundespräsident von Weizsäcker nannte die jüngste Entwicklung einen „tiefen historischen Einschnitt in der Nachkriegsgeschichte“.

Von den Grenzübergangsstellen zu Westdeutschland wird gemeldet, daß dort der Andrang von Ausreisern im Laufe des gestrigen Tages zugenommen hat. Gemeldet werden von den Grenzübergängen nach Westdeutschland in Niedersachsen, Bayern, Hessen und Schleswig-Holstein jeweils mehrere tausend DDR-Bürger, die in ihren Trabis und Wartburgs zum ganz überwiegenden Teil nur zum Besuch in die BRD reisen wollen. Von den bayerischen Grenzstellen zur DDR wird gemeldet, daß nun der Ausreisestrom von DDR-Bürgern über die CSSR abzunehmen beginnt. Nicht mehr als 3.500 sollen es am Freitag gewesen sein gegenüber mehr als 10.000 an den Tagen zuvor. Die Zahl der Zurückreisenden nimmt beständig zu.

Die bundesdeutschen Behörden bemühten sich am Freitag mit Hochdruck um zusätzliche Notunterkünfte. Kirchen, Organisationen und Hilfswerke wollen weitere Betten bereitstellen. Der Zivilschutz richtete in einer „Blitzaktion“ bundesweit Schutzräume für die Aufnahme von Übersiedlern her. Die Länder griffen auf Hilfskrankenhäuser, Jugendherbergen, Turnhallen und Polizeikasernen zurück.

Eine Welle der Hilfsbereitschaft erfaßt inzwischen Bundesdeutschland. Tankstellen haben sich Trabi-Treibstoff besorgt, bundesdeutsche Städte haben dem Berliner Senat angeboten, Busse zur Verfügung zu stellen. Insbesondere West -Berliner Warenhäuser nehmen zu bestimmten Konditionen Ostmark als Bezahlung an. West-Berliner Theater und Opernhäuser werden kostenlose Sonderveranstaltungen für DDR -Besucher durchführen.

raul gersson

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