: Metropolenfieber?
Berlin als Stadt, als Hauptstadt, als Metropole, die politische Situation, das Lebensgefühl in ihr, war und ist Thema ungezählter Berlin-Romane. Wir haben eine winzige Auswahl aus den zwanziger Jahren, der Nachkriegszeit und der jüngeren Vergangenheit getroffen, um in der Hektik des Tagesgeschehens einen anderen Blick auf die Stadt zu werfen.
Eine Stadt liegt im Fieber. Was sich noch vor drei Tagen niemand vorstellen konnte, ist zur alles überrollenden Wirklichkeit geworden. Die Stadt feiert im absoluten Chaos, im ekstatischen Rausch, manchmal schon fast hysterisch. Zwei Stadthälften sind aufgewacht und nächtelang auf den Beinen. Vergleiche werden angestellt mit anderen historischen Epochen der Stadt und mit anderen Großstädten - und hinken doch alle weit hinter der Realität her. Ein neues Lebensgefühl stellt sich gleichsam über Nacht her: Berlin soll wieder Metropole sein.
Eine Stadt nicht nur im Freudentaumel, sondern auch im Metropolenfieber. Jenseits aller Versuche der Rechten, die Stimmung auszunutzen für Wiedervereinigungsromantik, treibt auch in der Linken der lange nur im Verborgenen blühende Mythos Berlin neue Blüten. Man erinnert sich gern der sogenannten Goldenen Zwanziger, an die fast paradiesischen Zustände, wie sie sich zumindest im kollektiven Gedächtnis festgesetzt haben.
Berlin ist endlich wieder etwas Besonderes, nachdem die Normalität der Mauerstadt kaum noch überwindbar schien. „Der Berliner ist meist aus Posen oder Breslau und hat keine Zeit“, charakterisierte Tucholsky Anfang der zwanziger Jahre spöttisch den Bewohner einer Weltstadt.Die europäische Metropole wollte man damals wie heute sein, und war doch, mit Ausnahme der zwanziger Jahre, wo Berlin zu einer unter anderen europäischen Metropolen avancierte, meist weit weg im vielgeschmähten märkischen Sand. Über Jahrzehnte hinweg mußte nach dem Krieg der Mythos Berlin brachliegen, abgesehen von insgesamt eher bescheiden ausfallenden Frontstadtgefühlen.
Bereits am Sonntag kehrt in der Stadt eine - wenn auch neue - Realität ein: Allerorten wird Schlange gestanden, gekauft und gehandelt. Schon waren vereinzelt Aggressionen zu spüren, zu hören in den bis zum Bersten gefüllten U-Bahnen oder am Breitscheidplatz, wo auch Westberliner Kaffee und Schokolade geschenkt bekommen wollten.
Jede Menge Möglichkeiten für Utopien, wie jetzt in der Linken spekuliert wird? Eine großartige historische Chance, zur europäischen Mitte zu werden? Auch für „die Armen“ die Utopie einer grenzenlosen Welt, für die die europäische Metropole Berlin zum Symbol wird? In nächster Zeit sind vor allem pragmatische Lösungen gefragt, viel Geduld und viel guter Wille. Ehe ein ungehindertes Kommen und Gehen in beiden Richtungen „normal“ geworden sein wird, werden neben der Euphorie große soziale und organisatorische Probleme auf den Westteil der Stadt zukommen, angefangen von einem riesigen Schwarzmarkt bis hin zu Schwarzarbeit in gewaltigem Ausmaß.
Natürlich werden sich die Lebensbedingungen in der Stadt verändern - wie, kann im Moment niemand so genau sagen. Berlin wird wieder eine Stadt mit Hinterland sein und über hoffentlich zwei deutsche Staaten hinweg wieder zu einer lebendigen, aufregenden, skurrilen Stadt zusammenwachsen und damit ein Kuriosum bleiben. Natürlich lohnt es sich, darüber nachzudenken, Konzepte zu entwickeln, Szenarien zu erstellen. Aber muß es gleich wieder die europäische Metropole werden, ja gar zur Mitte Europas - real wie in den Köpfen ihrer Bewohner?
Kordula Doerfler
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