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Risiko Kohl

■ Zur Ablehnung des „runden Tisches“ durch den Kanzler

Der Führungsanspruch der SED ist gescheitert, halb aufgegeben, fast zurückgenommen, der Führungsanspruch von Kohl bläst sich auf. Daß Kohl in einer solchen welthistorischen Situation nichts zu sagen hat, überrascht niemand. Wie aber der Nichts-Sagende das Sagen behalten will, überrascht dennoch. Selten war Imkompetenz so arrogant. Die Forderung eines „runden Tischs“, von Willy Brandt im Namen der SPD erhoben, beinhaltet zwar keine politische Antwort auf den Sturm der Probleme und Massen. Aber sie zeigt wenigstens ein richtiges Bewußtsein der Lage. Diese Forderung eines „runden Tischs“ für alle politischen Kräfte der Bundesrepublik ist ein erster Schritt. Und der beginnt mit der Einsicht, daß Parteipolitik, d.h. die Politik der Erhaltung und Erweiterung der Wählerreservoire, durchbrochen werden muß; beginnt mit der Einsicht, daß die bisherigen deutschlandpolitischen Vorstellungen auf den Schutthaufen der Geschichte gehören. Vor allem aber steckt in dieser Forderung die Einsicht, daß die Stabilisierung und Erhaltung der DDR auch Ziel der Bundespolitik sein muß. Ohne DDR-Souveränität wird es keine Demokratisierung, wird es keine Selbstbestimmung der Bevölkerung geben. Und das wird teuer, das übersteigt den parteipolitischen Konsens in Bonn, das verlangt auch eine besondere Legitimierung gegenüber der Bevölkerung der BRD.

Die DDR-Bevölkerung ist erst noch am Anfang, die wirtschaftliche Misere zu entziffern. Angesichts des verfallenen Maschinenparks, der ruinierten Städte, der parasitären Kombinatsbürokratie muß schon die Hoffnung auf Demokratisierung mit der Resignation konkurrieren. Kommt hinzu, daß die, die dableiben wollen, die durch den Weggang zerstörte Dienstleistungsstruktur durch doppelte Arbeit flicken müssen. Wenn dann noch massenhaft, unmittelbar im Westen erfahren wird, daß das Ergebnis ihrer Arbeit, ihrer Sonderschichten nichts wert ist, wie schnell kann Freiheit und Demokratie zu einer ebenso leeren Parole werden, wie es der Sozialismus noch vor einem Monat war. Es sind also Sofortprogramme gefordert. Die Kaufkraft der DDRler muß finanziert werden. Hilfsprogramme für die Dienstleistung, von der Gesundheit bis hin zum Gastättengewerbe, sind nötig. Sofortprogramme dieser Art könnten die Zeit verschaffen, um überhaupt Konzepte zu entwickeln, die es in der Bundesrepublik bis dato nicht gibt. Keine Partei allein im Bundestag allein hat das Mandat, ein solches Sofortprogramm zu tragen. Der „runde Tisch“ ist der unvermeidbar erste Schritt.

Daß Kohl diesen Schritt ablehnt, auf bilaterale Verhandlungen setzt und im übrigen Milliarden verspricht, um rhetorisch erst einmal Bedingungen zu benennen, macht ihn zum deutsch-deutschen Risiko. Er verspielt die Zeit, die man jetzt braucht, um Zeit zu gewinnen. Kohl praktiziert mit seinen Manövern des Zeitverlustes jedenfalls nach wie vor die alte christdemokratische Deutschlandpolitik: die Destabilisierung der DDR. Es kann gut sein, daß das erste Opfer dieser Kohlschen Destabilisierungspolitik nicht die SED, sondern die DDR-Opposition ist. Die Massen, die in Ost -Berlin, in Leipzig und Dresden auf die Straßen gegangen sind, waren natürlich auch auf den Straßen von West-Berlin. Werden sie noch auf die Straßen gehen, noch Opposition machen, noch für Reformen auf Jahre hinaus kämpfen, wenn sie nach wie vor die Hungerleider vor westlichen Schaufenstern bleiben werden?

Klaus Hartung

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