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In Chile spricht man von „Ottostroika“

Seit Öffnung der Berliner Mauer spricht man in Chile nicht mehr nur von Perestroika, sondern auch von Ottostroika Chiles Linke hält Reformen für notwendig, fragt aber nach den Konsequenzen für die Dritte Welt  ■  Von M. Kniesburges/T. Meyer

Santiago (taz) - Inmitten des heftigen Wahlkampfes in Chile, wenige Wochen vor den ersten Präsidentschaftswahlen nach 16 Jahren Militärdiktatur, hat ein Ereignis es gleich mehrere Tage hintereinander geschafft, die Wahlen auf Platz zwei der Titelseiten aller großen chilenischen Zeitungen zu verdrängen: „El Muro de Berlin“ - Die Berliner Mauer. Seit den jüngsten Entwicklungen in der DDR spricht man in Santiago nicht mehr nur von der Perestroika Gorbatschows, sondern auch von der „Ottostroika“. Vom Flagschiff der rechten Presse, dem auflagenstarken 'El Mercurio‘, bis zu der inzwischen wieder zahlreichen erlaubten linken Zeitungen wird seit der Regierungsübernahme durch Egon Krenz en Detail über die Entwicklungen in der DDR berichtet. Seither ist auch die Jannowitzbrücke in Chile ein Begriff.

Und während der 'Mercurio‘ in seiner Kommentarspalte nicht nur bereits die deutsche Wiedervereinigung zur Sprache brachte, sondern auch die Arbeitsamkeit der Übersiedler als Vorteil für die BRD-Wirtschaft zu preisen wußte, machte sich umgehend die Wahlkampfcrew des Präsidentschaftskandidaten Pinochets, sein Ex-Wirtschaftsminister Hernan Büchi, das Thema zu eigen. Auf einer aufwendig vorbereiteten Jubelveranstaltung „Frauen für Büchi“ am Sonntag im Stadion 'Santa Laura‘ in Santiago rief die Parlamentskandidatin der Rechten, Evelyn Matthei, enthusiastisch ins Mikrofon: „Die Mauer in Berlin ist gefallen, weil die Jugend überall im Ostblock ihre Freiheit will. Die wahren Realisten auf dem Weg zur Demokratie sind wir!“

An den Theken der vielen kleinen Kneipen, der „Schopperias“, in Santiago geht man das Thema unterdessen weitaus bedächtiger und vor allem skeptischer an. Unter den vielen Fragen zur Entwicklung im östlichen der beiden Alemanias dominiert die eine: Warum gehen so viele von Ost nach West, obwohl sie doch alle Arbeit und zu essen haben?

Kein Wunder! Weder dem Besitzer der kleinen Autoklitsche nebenan, noch seinem einzigen Arbeiter will einleuchten, warum ihnen so viele gut gekleidete und wohlgenährte Menschen vom Fernsehen als Flüchtlinge präsentiert werden. Einer der rund 600.000 Straßenhändler - er bringt Mottenkugeln unters Volk - erklärt sich das Ganze so: Diese Leute haben ganz andere Probleme als wir.

Arturo Martinez, der gerade aus der Verbannung zurückgekehrte Vizepräsident des zentralen chilenischen Gewerkschaftsverbandes CUT, bewertet die Entwicklungen in den Staaten Osteuropas dementsprechend nüchtern: „Es finden dort Reformen statt: Reformen, die notwendig sind, Reformen, die schon früher hätten stattfinden müssen. Man hat zu lange gewartet, bis die Situation sehr kompliziert wurde. Es darf keine Stagnation geben. Die Völker brauchen die Freiheit, die Demokratie, die Lösung der sozialen Probleme. Die neuen Möglichkeiten dürfen jedoch nicht an die verspielt werden, die die Völker der Dritten Welt ausbluten. Wir werden in zehn Jahren 250 Millionen Arme in Lateinamerika haben. Das ist das Problem.“

Auch Patricio Rivas, Vertreter der „Bewegung der Revolutionären Linken“ (MIR) und derzeit Vizepräsident des Wahlbündnisses linker Parteien in der Opposition (PAIS), zählt die Veränderungen in den sozialistischen Staaten zu den wichtigsten Prozessen dieses Jahrhunderts: „All das muß aus einer historischen Perspektive gesehen werden. Die Forderung nach einer sozialen und gerechten Gesellschaftsordnung ist alt, aber die politische Geschichte der sozialistischen Staaten ist in diesem historischen Kontext gesehen sehr jung. Wir sehen das durchaus optimistisch.“ Weniger optimistisch betrachten Jugendliche aus der noch immer verbotenen Kommunistischen Partei Chiles die jüngsten Entwicklungen. Diskutiert wird die Frage: „Schwenken die sozialistischen Staaten jetzt auf den kapitalistischen Kurs ein? Lassen sie sich einkaufen?“ Auch einer, der jahrelang in der DDR im Exil war, konnte in einer der Diskussionen diese Befürchtungen nicht ausräumen, so sehr er sich auch bemühte, die vielen Fragen zu beantworten. Bevor diese Frage sich klären wird, hat die im Untergrund operierende politisch-militärische Organisation „Frente Patriotico Manuel Rodriguez“ sich auf die alte Erkenntnis Mao-Tse-Tungs eingestellt: „In Zukunft müssen wir, und nicht nur wir, ausschließlich auf die eigenen Kräfte vertrauen.“

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