: Soziologie des Wintersports
Gedanken von 1925 zum Auftakt des Skiwinters 1989 ■ PRESS-SCHLAG
Da der Begriff und die Formen des Wintersports vielfachen Wandlungen unterworfen waren, halte ich, um präzise Verständigungsmöglichkeiten zu schaffen, folgende Formulierung für notwendig:
Wintersport ist in der Hauptsache das Bestreben sonst ganz normaler Menschen, vermittels hölzerner Geräte, die man sich entweder an den Popo oder an die Füße schnallt, eine mit Schnee bedeckte schiefe Ebene hinunterzugelangen, ohne einen sozialen oder sonst vernünftigen Zweck damit zu verfolgen. Da sich weder zur Zeit der totemistischen frühen Jägerkulturen noch bei primitiven mutterrechtlichen Agrarvölkern noch in irgendeiner der kapitalistischen Epoche vorangegangenen Kultur Bob-Rennen oder Ski-Spring -Konkurrenzen nachweisen lassen, liegt es wohl als unbestreitbare Tatsache auf der Hand, daß wir es beim Wintersport mit einer kulturellen Manifestation der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu tun haben.
Die soziale Klassifizierung der Wintersportler ist ziemlich einfach, da das Hauptkontingent ziffernmäßig derart überragend ist, daß eigentlich nur noch eine Schicht übrigbleibt. Außer diesen beiden Typen, von denen ich gleich sprechen werde, gibt es vereinzelte Individuen, die Wintersport um des Lustgewinnes willen treiben, weil es ihnen wirklich Spaß macht, und weil sie tatsächlich die Technik des Ski- oder Bobfahrens beherrschen. Doch diese kommen typologisch nicht in Betracht.
Die ausgeprägte Polarität der beiden eigentlich wintersportlichen Typen ist sozial sowie durch ihre grundsätzlich verschiedene Einstellung zum Sport bedingt. Wir wollen diese beiden Typen schlicht den bürgerlichen das ist der zahlenmäßig geringere - und den arrivierten oder feudalen nennen.
Die Beobachtung des bürgerlichen, meist dem darbenden Mittelstande angehörenden Typus ist wesentlich erschwert, weil er, in unkleidsamem grauen Habit, meist auf einem Piz oder Horn sportelt. Er imputiert der Tätigkeit des Ski -Laufens allerlei psychische und ethische Momente, und nach seinen dunkeln Andeutungen hält er in den Gefilden ewigen Schnees egalweg Zwiesprache mit dem Ewigen. Dieses bewirkt das restlose Schwinden des allerdings in dieser sozialen Schicht überhaupt nur noch in rudimentären Ansätzen vorhandenen Humors. Im Gegensatz zum feudalen besitzt der bürgerliche Typus die Fähigkeit und die Tendenz, sich trotz der die körperliche Bewegungsfreiheit außerordentlich hemmenden Skier rasch vom Fleck zu bewegen.
Dahingegen läßt sich beim feudalen Typ eine fortschreitende Atrophie der kinetischen Energie wahrnehmen. Der Arrivierte respektive Feudale bewegt sich zu Hause lediglich vermittels des eigenen Autos fort; im Winterkurort dagegen überhaupt nicht. Mein Gott, hat er nötig, keuchend Berge zu erklimmen, um dann zu sehen, wie er auf tückischen Holzgeräten wieder herunterkommt! Von der feudalen Klasse dieselbe Einstellung zum Wintersport zu verlangen wie von der bürgerlichen, ist lächerliche Beschränktheit und unsinnig vom soziologischen Standpunkt aus. Wintersport ist dem Träger feudaler Gesellschaftskultur keine Funktion, sondern der Ausdruck sozialästhetischen, repräsentativen Formgefühls. Das heiße Bestreben der Arrivierten ist, das Äußere zu einer höchstpotenzierten Wiederholung des eignen imperativen Wesens zu machen. Folglich bedeutet ihm Wintersport: in pompösen Pumphosen und raffiniertester farbiger Wolle im Kurhaus und auf der Promenade zu repräsentieren. Der Arrivierte befindet sich selbstverständlich im Besitz sämtlichen Sportgerätes, dessen Benutzung jedoch die soziologische Eigentümlichkeit einer anderen Gesellschaftsschicht ist.
Grete Wels
Aus: Die Weltbühne, Berlin, vom 3.März 1925
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