: Wenn Gönner eine Reise planen...
Kohls Pokern mit dem Termin seiner Reise in die DDR beleuchtet einmal mehr die unnachgiebige Bonner Haltung ■ Von Matthias Geis
Berlin (taz) - Wann Helmut Kohl der DDR die Ehre seines Besuches erweisen wird, bleibt weiter offen. Entgegen anderslautenden Meldungen betonte Regierungssprecher Klein gestern in Bonn, ein Besuch noch vor Weihnachten sei weiterhin denkbar. Keinesfalls wird Kohl vor dem vorgezogenen SED-Parteitag reisen, der vom 15. bis 17. Dezember stattfindet. Denn von der Bonner Prüfung der Ergebnisse hängt ab, wie man am Rhein weiterhin mit der DDR zu verfahren gedenkt. Die Bonner Mindestvoraussetzungen für etwaiges Entgegenkommen haben Kohl-Adlatus Seiters in Ost -Berlin und der Kanzler selbst bei jeder sich bietenden Gelegenheit vorgetragen: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, unabhängige Gewerkschaften, Parteien und Schluß mit der Richtlinienkompetenz für die SED. Einen Zwischenbericht über den Stand der Reformentwicklung wird der Kanzleramtsminister noch vor dem Parteitag einholen. Es bleibt zu befürchten, daß auch der gestern in Ost-Berlin unterzeichnete Kooperationsvertrag zwischen der DDR und Österreich die neue Führung in Ost-Berlin kaum in die Lage versetzen wird, den zweitklassigen Kanzlersendboten vor die Tür zu setzen, falls der versucht, das Bonner ökonomische Druck- und Drohpotential erneut so unverschämt zu personifizieren wie bei seinem ersten „Besuch“.
Doch auf solch angemessen-souveräne Maßnahmen werden wir weiter warten müssen. Lediglich in einer Replik ließ Modrow gestern die Verstimmung erkennen, die Ost-Berlin offen zu zeigen nicht wagt: Die Bundesrepublik solle am Beispiel Österreichs erkennen, daß die „Gemeinschaft im europäischen Haus“ sich nur am gleichberechtigten Umgang miteinander erweise. Wien hat den Kooperationsvertrag, der unter anderem gemeinsame Umweltprojekte und Joint-ventures vorsieht, ohne politische Vorbedingungen geschlossen. Österreich hat auch die Bildung eines Devisenfonds angekündigt, der Garantien bei der Umwandlung von Schulden osteuropäischer Länder in Beteiligungen österreichischer Firmen in diesen Ländern übernehmen wird. Das Bonner Gebaren kommentierte der Kanzler aus Wien mit dem Satz: „Wir brauchen uns nicht wiederzuvereinigen.“
Während ein Vertreter der Ostberliner Sozialdemokraten die bundesdeutsche Haltung gegenüber der DDR als „Erpressung“ bezeichnete, machte sich der stellvertretende Vorsitzende des „Demokratischen Aufbruchs“ nach seinem gestrigen Besuch bei Kohl dessen Drohgebärde zu eigen: Kohl werde nicht zu einem Höflichkeitsbesuch nach Ost Berlin kommen. Von „Gönnerhaftigkeit“ habe er im Gespräch mit dem Kanzler nichts verspürt.
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