: Aufbruch ins Ungewisse
Noch erlaubt die Opposition der Prager KP, ihr Gesicht zu wahren ■ K O M M E N T A R
Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 haftete der tschechoslowakischen Gesellschaft das Stigma gänzlicher Entpolitisierung an. Die Machthaber von Breschnews Gnaden sorgten in den siebziger Jahren mit der von ihnen euphemistisch „Normalisierungskurs“ genannten Politik für eine Atmosphäre totaler Depression. Deren Folge, die Atomisierung der Gesellschaft, förderte Korruption, Unterwürfigkeit und doppelte Moral wie in keinem anderen Land des Warschauer Paktes. Noch vor einem Jahr klagte ein slowakischer Literat, das Land sei „eine moralische Wüste, in der man nicht einmal anständig über die Liebe schreiben kann.“
Dieses Stereotyp eines politisch unreifen Volkes widerlegen nun tagtäglich die Massen auf den Straßen aller großen Städt der CSSR. Noch vor zehn Tagen waren es Jugendliche und Studenten, die ihren Widerwillen offen bekundeten. Mittlerweile hat die Protestwelle alle Schichten der Bevölkerung erreicht.Unter deren Druck mußte die altstalinistische Führung sukzessive eine nach der anderen für sicher geglaubte Bastion räumen. Das verbale Bekenntnis zu Reformen hat ihr keiner mehr abgenommen.
Die Partei steckt in einer schweren Krise, an der die Auswechslung der Hardliner nichts ändern wird. Denn auch ihnen hängt der Stallgeruch der alten Zeit an. Wäre es nach den Vasallen Breschnews gegangen, hätten die Sicherheitskräfte die Proteste gewaltsam erstickt. Dies zeigte zumindest die Feindseligkeit, die Ministerpräsident Adamec aus dem Führungsgremium der Partei entgegenschlug, als er das Gespräch mit Vertretern des oppositionellen „Bürgerforums“ suchte. Er hatte jedenfalls die Zeichen der Zeit verstanden, die nun auch im ZK erkannt worden zu sein scheinen: Will die KPTsch nicht mit fliegenden Fahnen untergehen und eine gewaltsame Lösung vermeiden - die ihr diesmal keinen Aufschub von 20 Jahren mehr garantiert hätte
-, muß sie sich arrangieren.Paradoxerweise kommt ihr dabei die tiefe Skepsis innerhalb der Bevölkerung und noch bei weitem mehr in der Opposition entgegen. Letztere will nichts überstürzen eingedenk ihrer historischen Erfahrungen. Der Partei soll ein geordneter Rückzug ermöglicht werden, die Vertreter sollen ihr Gesicht wahren können, um einer immer noch drohenden Eskalation entgegenzuwirken. Daher auch der zeitlich recht knapp bemessene Generalstreik während der Mittagspause heute.
Selbst Adamec kann hier nicht mehr zum Hoffnungsträger avancieren. Er war es, der noch vor einem Monat auf die Frage nach Havel antwortete: „Wer ist Havel? Ein Niemand.“ Gestern nun verhandelten er und Vertreter der sich ausdifferenzierenden nationalen Front ausgerechnet mit einer Delegation des Bürgerforums, der auch Havel angehört. Auf der Tagesordnung standen Forderungen nach Legalisierung der Opposition, ein neues Presserecht und Freilassung aller politischen Gefangenen. Sich mit Adamec an einen Tisch zu setzen, hieß es in Kreisen der Opposition, sei der Beschleunigung der Verhältnisse geschuldet. Heute zählt immer nur das, was jemand tut und nicht mehr, was er gesagt hat.
Die Stimmungslage der Bevölkerung dürfte diese Haltung allerdings nicht gänzlich treffen. In Prag spürt man Erleichterung, aber keine Euphorie. Die verhaltene Freude ist dabei nicht allein ein Zeichen des Mißtrauens gegenüber der Partei, sondern auch ein Beleg mangelnder Visionen, anders noch als vor 22 Jahren. Heute handelt es sich um einen „Aufbruch ins Ungewisse“, dessen Leitstern nicht viel mehr als Pragmatismus sein kann. Wenn die Massen auf dem Wenzelsplatz Alexander Dubcek frenetisch zujubeln, dann ist es ehrlich gemeint, gilt jedoch vor allem dem unbeugsamen Kämpfer und zeigt die Kraft seiner Legende, aber nicht die seiner Vision eines Sozialismus‘ im menschlichen Antlitz.
Klaus-Helge Donath
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