: Republikflucht in die andere Richtung
„Geh doch nach drüben“: Was ehemals als Beschimpfung galt, wollen einige BundesbürgerInnen jetzt als Aufforderung ernst nehmen Rund 60 Übersiedlungsanträge pro Monat / Die DDR, ein „spannendes Land“ / Vielzitierter Auswanderungsgrund: Otto Graf Lambsdorff und die politische Korruption ■ Von Vera Gaserow
An Familienkaffeetischen setzte er den Schlußpunkt unter unzählige Diskussionen, und egal, wofür oder wogegen demonstriert wurde - am Straßenrand war er immer dabei: der x-fach sattgehörte Spruch: „Wenn's euch hier nicht paßt, geht doch nach drüben!“ Nach der „Wende“ in der DDR hat dieser Spruch jedoch für Einige eine Bedeutung bekommen.
An Kneipentheken, im Freundeskreis, im Handwerkskollektiv wird mehr oder weder ernsthaft darüber phantasiert, ob dieser Aufforderung nicht tatsächlich Folge zu leisten sei. Mal ist es der Geschäftsführer eines Alternativbetriebs, der meint, „daß es ihn schon stark reizen würde, wenn man ihm in der DDR einen Job anböte“, mal eine Bekannte, die sich ausspinnt, wie es wohl wäre mit der Arbeit in einer Zwickauer Maschinenfabrik und dem kuscheligen Leben mit dem Liebsten in einer heimeligen DDR-Zweiraumwohnung. Meist bleiben solche Gedankenspiele vom Aufbau des nunmehr „richtigen“ Sozialismus im Reich der Phantasie und die Stammtischvisionen verpuffen folgenlos.
Die taz hat sich jedoch auf die Suche nach Leuten gemacht, die es ernster meinen. Sie sprach mit Leuten, die zumindest ernsthaft überlegen, „nach drüben“ zu gehen, um dort zu leben und zu arbeiten. Am liebsten wollen die GesprächspartnerInnen befristet, für zwei, drei Jahre in die DDR übersiedeln. Die meisten erklärten jedoch - wenn's denn unbedingt sein müsse -, würden sie auch den grünen gegen einen blauen Paß eintauschen. Alternative Entwicklungshilfe, Wohlstandsüberdruß, Revolutionsromantik? Nach Portugal und Nicaragua nun die DDR als Hoffnungsträger der westdeutschen Linken? Bundes-Republikflüchtige in spe aus allen Teilen Westdeutschlands aus völlig unterschiedlichen Berufsgruppen melden sich zu Wort.
Die Koffer hat Gerhard B. zwar noch nicht gepackt, aber der Entschluß ist gefaßt und erste Vorbereitungen sind getroffen. Der 30jährige Diplompädagoge will für unbestimmte Zeit sein Leben von Berlin-West nach Ost verlagern. Seit Honeckers Sturz macht er sich verstärkt auf die Suche nach einem Arbeitsplatz und einer Wohnung in der DDR und findet das ganze ziemlich selbstverständlich. „Warum eigentlich nicht? Wer wirklich Freude an Arbeit mit Kindern hat, wen hält es denn da noch hier. Da drüben wird jetzt über Pädagogik diskutiert, das Schulsystem wird neu gestaltet werden. Das ist doch ungeheuer spannend. Was spricht gegen ein solches Experiment?“
Was dafür spricht, beschreibt Gerhard B. mit Argumenten, die fast alle benennen, in denen der Gedanke an Bundes -Republikflucht rumort: „In der DDR sehe ich die allerletzte Chance, auf europäischem Boden einen irgendwie gearteten Sozialismus aufzubauen. Die Bereitschaft in der Bevölkerung zu einer solchen Veränderungen ist sehr groß und die ökonomische Situation besser als in anderen sozialistischen Ländern. Hier bei uns“, meint Gerhard B., „herrscht so eine Gummi-Zellen-Atmosphäre. Da drüben ist Aufbruchstimmung. Jeder redet mit jedem über Politik. Das ist doch spannend.“ Daß seine Pläne etwas mit Revolutionstourismus zu tun haben könnten, weist Gerhard B. weit von sich: „Ich habe zum Beispiel nie ein Fünkchen Revolutionsbegeisterung für Nicaragua gehabt. Nicaragua ist mir zu fern. Ich kenne die Menschen dort nicht, das ist eine andere Kultur. Aber in der DDR habe ich viele Freunde. Das ist für mich kein fremdes Land. Ich versteh‘ auch die Leute, die von der DDR die Schnauze voll haben. Einige meiner Ostberliner Freunde sind jetzt schon ganz scharf auf meine Wohnung im Westen, die frei wird, wenn ich rübergehe.“
„Genau wie die DDRler jetzt zu uns rüberkommen, weil sie die Schnauze voll haben, habe ich die Nase voll von der Bundesrepublik,“ schimpft der 24jährige Krankenpfleger Jörg. Bei dem Notstand im Gesundheitswesen der DDR würde er in seinem Beruf dort sicher gebraucht, meint er. „Dort kann man etwas Neues aufbauen. Hier ist alles so festgefahren, alles so vorhersehbar. Alle vier Jahre einmal haben wir Demokratie - wenn man zur Wahl geht.“ Jörg ist SPD-Mitglied, hat bei den Jusos „mitgemischt“, „aber da hast du bestenfalls auf lokaler Ebene Einflußmöglichkeiten. Kannst mal 'nen Radweg erkämpfen, aber sonst nix. Alles ist so verfilzt. Drüben nehmen sie zur Zeit wenigstens den Filz auseinander. In der DDR muß man die Demokratie noch richtig lernen. Das macht sicher Spaß und bringt auch Energie.“
„Wenn ich jünger wäre, wäre ich als Arzt jetzt schon längst drüben“, meint Georg R., Mediziner in einem „Arme-Leute -Viertel“ von Hamburg. Nur, mit seinen über 60 Jahren würde er in der DDR wohl nicht so dringend gebraucht. Aber wenn „die Leute in der DDR sich selber ein Stück zurechtgefunden haben“, und der Reformprozeß keinen entscheidenden Rückschlag erlebe, dann steht für Georg R. fest: „Ich geh rüber. Ich bin dieser Ellbogengesellschaft hier einfach überdrüssig“, versucht er seine Pläne zu erklären. „Hier in meiner Praxis kriege ich sehr viel Armut mit, gerade bei alten Leuten, und dann wird immer dieser Wohlstand geheuchelt. Diese Unehrlichkeit und ständige Ungerechtigkeit sind mir unerträglich. In der DDR ist das allgemeine Klima viel angenehmer. Da hat sich vielleicht durch die Erziehung so eine Art soziales Gewissen festgesetzt, das man hier vermißt.“
Dr. R. hat in Jena studiert und ist seitdem ständig mit Freunden und Bekannten in der DDR in Kontakt geblieben. Er glaubt von daher zu wissen, worüber er spricht. Viele andere potentielle Übersiedler von West nach Ost wissen allerdings erschreckend wenig über ihren selbsterwählten neuen Heimatstaat. Für sie ist die DDR eher Projektionsfläche für enttäuschte Hoffnungen. Ihre Übersiedlungspläne haben weniger mit der real-existierenden DDR zu tun als mit den Verhältnissen in der Bundesrepublik.
Heinrich L. aus dem westfälischen Coesfeld zum Beispiel sieht für sich als Architekt „keine Perspektive in der Bundesrepublik“. Seit 17 Jahren ist er DKP-Mitglied, und „trotz einigem Unbehagen“ hat ihm die DDR „eigentlich schon immer gefallen“. Jetzt hat ihn „mitgerissen, was da drüben abgeht. Und wenn ich mir das kaputte Leipzig angucke, denke ich: da könnte ich als gelernter Schreiner meine Kraft und Energie einsetzen, die ich hier gar nicht einbringen kann.“
Sich einbringen, was anpacken, das wollen auch die rund 40 Leute einer Studenteninitiative der beiden Westberliner Universitäten, die sich regelmäßig treffen. Unter dem Motto: „Reformen und den Aufbau eines demokratischen Sozialismus aktiv unterstützen“, wollen sie sich denen „drüben“ vor allem in den Semesterferien als freiwillige Arbeitsbrigade anbieten. Erste Kontakte mit dem Ostberliner Magistrat und zwei landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften sind geknüpft, und „ganz scharf“ sei der Stadtrat für Arbeit und Löhne auf die potentiellen Arbeitskräfte gewesen. Nur wie und wo und - bitte schön - zu welcher Bezahlung die studentische Brigade zum Einsatz kommen soll, ist noch völlig unklar. Klar jedoch ist das Motiv für den geplanten Arbeitseinsatz: „Das liegt doch auf der Hand.“
„Hier findet man wenig Plätze, wo man für die Welt arbeiten kann“, begründet die 25jährige Theatertechnikerin Angela ihre Übersiedlungswünsche. „Alles ist so abgegrast, und für alles, was du machen willst, brauchst du irgendeine formale berufliche Ausbildung, und dazu hab‘ ich keine Lust.“ Mangelnde berufliche Perspektive führt auch der 39jährige Gymnasiallehrer Heiner K. aus Bielefeld als Hauptmotiv für seine Auswanderungspläne an. Seit Jahren arbeiten seine Frau und er in Jobs, die nicht ihrer Ausbildung und ihren Wünschen entsprechen.
Viel zu verlieren hätten sie bei einer möglichen Übersiedlung nicht, meint er: das Einkommen seiner vierköpfingen Familie liegt jetzt unter 2.000 Mark, die Drei -Zimmerwohnung ist viel zu eng, und eine neue Wohnung zu finden sei gerade angesichts der Zuzügler aus der DDR schier unmöglich. Warum also nicht in die andere Richtung ziehen, wenn dort „eine adäquate berufliche Tätigkeit geboten würde, und man hin und wieder in den Westen reisen kann, um sich mit dem Nötigsten und einigen Zitrusfrüchten einzudecken“?
Die Einschränkung des Lebensstandards, die eine Übersiedlung in die DDR zwangsläufig mit sich bringen würde, der aus dem Mangel geborene Konsumverzicht stellt für keinen der möglichen BRD-Ausreiser einen Hinderungsgrund dar - im Gegenteil. Damit würde man schon klarkommen, heißt es in sämtlichen Gesprächen, und schließlich sei ja diese Konsumüberflutung einer der Gründe, warum man dem „goldenen Westen“ den Rücken kehren will.
Mehr noch als die Unzufriedenheit mit den konkreten Lebensbedingungen ist es jedoch ein allgemeiner, diffuser Überdruß an der bundesrepublikanischen Gesellschaft, der in den Gesprächen mit den potentiellen Übersiedlern immer wieder zur Sprache kommt. „Hier herrscht zuviel Hektik, zuviel Konsum. Dem kann man sich gar nicht mehr entziehen“, meint die 29jährige Germanistik-Studentin Brigitte aus München, die jetzt überlegt, wie sie es am besten anstellt, in der DDR eine Arbeit zu finden. „Ich hoffe dort Leute zu finden, die sich mehr für das Leben interessieren als für Äußerlichkeiten“, meint Theater-Frau Angela. Daß „drüben alles landschaftlich noch nicht so kaputt ist wie bei uns, nicht so glatt und abgeleckt“, wie Heiner K. es nennt, ist für viele „Ausreiser“ ein wichtiges Moment. Auf der Motivskala rangiert jedoch vor allem ein Grund ganz weit oben: das Gefühl von politischer Erstarrung und Gleichgültigkeit in der Bundesrepublik: „Wir haben jahrelang gegen die Startbahn gekämpft. Das hat niemanden geschert.“ Und „wenn bei uns 100.000 auf die Straße gehen, dann stört das niemanden“. - „Die hier machen ja doch, was sie wollen, und da drüben herrscht eine offenere Situation, da werden die Karten neu gemischt.“
Und immer wieder fällt in den Gesprächen mit den Ausreisewilligen, der Name eines Mannes, der wohl nicht im Traum daran denkt, daß er Anlaß zur „Flucht“ in die DDR geben könnte: Otto Graf Lambsdorff, und mit ihm die Schmiergeldaffäre als Inbegriff der Korruptheit bundesrepublikanischer Politik und Gleichgültigkeit gegenüber politischen Skandalen. Immer wieder ist auch die Rede „vom guten Menschen“ in der DDR. „Im Osten sind viel nettere Leute“, meint Angela, und daß „die zwischenmenschlichen Beziehungen in der DDR viel besser sind“, ist für Claudia R. ein wichtiger Grund, daß sie sich mit Übersiedlungsplänen trägt.
Claudia kommt ausgerechnet aus dem Land, das für viele DDR -Bürger die Inkarnation von Freiheit und Wohlstand ist. Sie ist US-Amerikanerin, hat gerade ihre Diplomarbeit über das Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR geschrieben und will sich jetzt um einen Sekretärinnenposten bei der DDR -Kirche bemühen. „Mein McDonald's und meine Cola werde ich zuerst ganz schön vermissen, und die fette Wurst da drüben ist wirklich gräßlich“, meint Claudia, „doch nirgends auf der Welt gibt es so viele Leute, die sich politisch engagieren und auf die man dann auch hört. Bei uns kümmert sich niemand darum, ob es Obdachlose gibt oder nicht. Da drüben sind andere Sachen wichtiger als die ganzen Klamotten. Die Leute sind einfach offener, und es gibt weniger Konkurrenz. Wenn es den Leuten, die jetzt drüben bleiben, gelingt, ihr System zu verbessern, dann wird es ein wahnsinnig spanndender Staat.“
Ob allerdings dieser „wahnsinnig spannende Staat“ die Zuzügler aus dem Westen überhaupt haben will, ist derzeit äußerst fraglich. Befristete Aufenthalts- und Wohnmöglichkeiten in der DDR gibt es für Bundesbürger außerhalb von geregelten Austauschprogrammen und Institutionen bisher nicht. „Für einen vorübergehenden Aufenthalt bzw. eine zeitweilige Berufstätigkeit in der DDR gibt es keine Voraussetzungen“, beschied das Außenministerium denn auch dem Werkzeugmacher Udo B., der sich schon vor über einem Jahr der DDR als befristete Fachkraft angeboten hat. Als er dann vom fernen Pforzheim doch zu einem Gespräch mit den zuständigen DDR-Stellen nach Ost-Berlin angereist kam, mußte er sich erst einmal einer mißtrauischen Befragung ob seiner Motive und Einkommensverhältnisse unterziehen. Seitdem hat er nichts mehr „von drüben“ gehört.
Bliebe statt befristeter Übersiedlung also der definitive Schritt: der Wechsel der Staatsbürgerschaft, wofür bei der Konsularabteilung des DDR-Außenministeriums ein entsprechender Antrag auf Übersiedlung gestellt werden muß. 50 bis 60 solcher Übersiedlungsanträge von Bundesbürgern bekommt das Außenministerium derzeit jeden Monat auf den Tisch - Tendenz steigend.
„Jeder dieser Anträge wird ernsthaft geprüft“, heißt die Auskunft aus der DDR-Konsularabteilung. „Es werden keine besonderen Bedingungen gestellt, aber es kann nicht jeder in die DDR übersiedeln, der es gern möchte.“ Ein großer Prozentsatz der Übersiedlungsanträge werde nicht genehmigt. Entscheidend sei, ob ein Arbeitsplatz und eine Wohnung für den Antragsteller gefunden werden könnten. In jedem Fall müßten sich gerade jüngere Neu-DDRler auf einen längeren Aufenthalt in dem zentralen Aufnahmelager bei Berlin einstellen. „Mancher hat da wohl gewisse Illusionen“, argwöhnt denn auch der freundliche Herr in der Konsularabteilung, „aber das wird sich schon wieder einpendeln.“ Und auf die Frage, ob die DDR denn glücklich sei über das plötzliche Interesse am Gang „nach drüben“ lautet die diplomatische Antwort: „Glücklich ist wohl nicht das richtige Wort.“
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