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Die Neugründung hat schon begonnen

■ Der „Arbeitsausschuß“ der SED besiegelt die De-facto-Auflösung der alten stalinistischen Partei

„Auflösung der SED als stalinistische und Neugründung als moderne sozialistische Partei“ - das hatten am Freitag Wissenschaftler der Humboldt-Universität in einem programmatischen Papier gefordert. Nach dem Rücktritt von Politbüro und ZK am Sonntag wurde das praktisch zum Programm des 15köpfigen Arbeitsausschusses, der seit gestern die Partei provisorisch leitet. Seine erste Aktion: Unter dem Titel der Parteizeitung 'Neues Deutschland‘ wurde die Unterzeile „Zentralorgan des ZK der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ um die Worte „des ZK“ verkürzt. Künftig, so schreibt Chefredakteur Wolfgang Spickermann im Editorial, sollten „stärker Meinung und Willensbildungsprozeß der Parteibasis zur Geltung“ gebracht werden.

Es gibt keinen trostloseren Anblick als das von aller Macht verlassene Gebäude einer Staatspartei. Die ehemalige Reichsbank der Nazis, in der das Zentralkomitee der SED Platz genommen hat, ist trotz aller Imponierarchitektur zu einer Ruine der Macht geworden. Und auch der Händedruck der Einheit, der meterhoch an der Fassade hängt, hat seit spätestens Sonntag abend einen Bedeutungswandel mitgemacht: „Tschüß“ scheint er zu sagen.

Die Vopos, die sonst den Parkplatz bewachen, sind abgezogen worden. Mufflige Stasileute mit roter „Ordner„-Armbinde versperren jedem Neugierigen den Zutritt in den Parteitempel. Und nicht nur Betriebsfremden: Seit Sonntag sind die Büros der Abteilungsleiter und der ehemaligen Mitglieder des Politbüros verschlossen und versiegelt. Kein Krenz, kein Stoph, kein Honecker haben Zutritt zu den Räumen, in denen Unterlagen, Panzerschränke, Datenverarbeitungsanlagen untergebracht sind. „Verbrecher sind das“, meint ein Pförtner, an dessen Revers kein Parteiabzeichen mehr steckt.

Im „Kommunikationszentrum“ des Zentralkomitees spricht man sich Mut zu: „Solange es die Partei noch gibt, wird gearbeitet“, sagt ein Herr Baumgart. Die Namen seiner neu gebildeten Parteiführer muß er noch in der Morgenpresse nachschauen, Telefonnummern gibt es gar nicht, aber er ist was auch immer passieren mag - sicher: „Für einen Sozialisten wird sich immer eine Heimat finden lassen.“

Kurz vor 14 Uhr rollen parteieigene Kleinwagen über den leeren Platz. Die 25 Mitglieder des Arbeitsausschusses treffen sich zur ersten inhaltlichen Arbeitssitzung, nachdem sie sich am Vorabend konstituiert hatten. Manchem fällt es noch sichtlich schwer, die neue Rolle auszufüllen. Wie ein gehetztes Kaninchen huscht Wolfgang Pohl, Bezirkssekretär aus Magdeburg, ins ZK-Gebäude, bepackt mit Material, das ihm seine Basis mit auf den Weg gegeben hat. Nur eines weiß er: „Es geht um eine Erneuerung, die einer Neugründung gleichkommt.“

Der erste Sekretär aus Rostock, Ulrich Peck, sagt: „Wir wollen nicht die bisherige Erneuerung fortsetzen. Wir brauchen eine neue Partei“, meint er, nicht ohne gleich hinzuzusetzen, daß es ihm natürlich um eine neue SED ginge vielleicht unter neuem Namen. Der erste Schritt des Arbeitsausschusses müsse darin bestehen, „daß wir aufräumen mit dem Schmutz und den Verbrechern. Dann werden wir uns über Inhalte verständigen“, sagt Peck.

Bevor sich die neugewählten Parteiführer am Sonntag abend in die Bezirke zurückzogen, um sich von der Parteibasis weitere Instruktionen diktieren zu lassen, hatten sie sich unter Leitung des Rechtsanwalts Gregor Gysi zu einer ersten Sitzung getroffen. Gysi war damit beauftragt worden, die innerparteilichen Korruptionsaffären zu untersuchen und zu verhindern, daß Beweismaterial vernichtet wird. Der Exspionagechef Markus Wolf nach der Sitzung: „Wir haben uns die Aufgabe gestellt, daß wir den Parteitag so vorbereiten wollen und müssen, daß er Vorraussetzungen schafft, eine Neuformierung einer sozialistischen Partei zur Erneuerung des Sozialismus in diesem Land einzuleiten.“

Es geht um eine neue, saubere Identität der SED. Kein Wunder, daß Wolf (der schon viele V-Leute mit Identitäten ausgestattet hat) die größte Gefahr für seine Partei in einer Spaltung sieht: Es dürfe „nicht alles auseinanderdiskutiert“ werden, sagte Wolf am Sonntag. Die Chancen stehen nicht gut: Unter den bislang etwa 300.000 Genossen, die ihr Parteibuch zurückgegeben haben, sind nach Angaben von Beobachtern etwa ein Fünftel überzeugte Kommunisten, denen die sozialdemokratischen Töne ihrer Partei zu weit gehen.

Doch was bis zum Parteitag noch geschehen wird, weiß niemand mehr genau - der Überblick ist verlorengegangen: „Es gibt in der SED keine festen Strukturen mehr. Die Mehrheit ist gelähmt und die Leitungsgremien sind hilflos, so hat die Basis völlig freie Hand“, sagt der Sprecher des Studentenrates der Humboldt-Universität. Eine historische Leistung habe der geschaßte Generalsekrtär Krenz gehabt: durch die eigene Schwäche der Basis Bewegungsgfreiheit gegeben zu haben.

Alexander Smoltczyk

Delegiertenwahlen

Am Wochenende fanden im gesamten Land die Kreisdelegiertenkonferenzen der SED statt, auf denen in geheimer Wahl die Mitglieder des außerordentlichen Parteitags bestimmt wurden, der vom 15. bis 17.Dezember stattfindet. Überall, so berichtet 'Neues Deutschland‘, gab es „heftige Debatten“, auf denen jedoch überall deutlich geworden sei, daß die Parteibasis genug hat von den „scheibchenweisen Enthüllungen“. Einig sei man sich darin, daß einer Spaltung der Partei entgegengewirkt werden müsse. Viele SED-Genossen vor allem der jüngeren Generation hatten in den letzten Wochen angekündigt, für sie komme nur noch eine radikal andere Partei infrage. Reinheit geht vor Einheit.

In den Berichten der (Ost-)'Berliner Zeitung‘ aus den verschiedenen Berliner Kreisorganisationen kommt die derzeitige Stimmung zum Ausdruck, die der alten Parteiführung wohl wenig Chancen läßt. Im Bezirk Treptow beschloß man, niemanden aus dem von Honecker geführten Politbüro wiederzuwählen. In Lichtenberg mußten die 30 Kandidaten in jeweils fünfminütigen Erklärungen darlegen, welche Schritte aus ihrer Sicht notwendig sind, um die SED „radikal zu erneuern“. Im Bezirk Friedrichshain fand die Bekanntgabe des Wahlergebnisses unter freiem Himmel statt. Die Delegiertenkonferenz hatte im Kino „Kosmos“ getagt, und als dann die Vorführung des lange verbotenen Films „Spur der Steine“ beginnen sollte, verlegte man den Schluß der Veranstaltung kurzerhand auf die Wiese hinter dem Kino.

mr

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