piwik no script img

Perestroika: Unter der Kosmetik lebt weiter die Bürokratie

■ Reformer auf der ganzen Welt feiern den großen Vater des Aufbruchs: Michail Gorbatschow - die im eigenen Lande nicht / taz-Interview mit dem Moskauer Philosophen Igor Cubajs

Wolf Biermann glaubt es, Egon Bahr glaubt es, Bärbel Bohley glaubt es wahrscheinlich, selbst Helmut Kohl glaubt es inzwischen: Wenn sich die Welt jetzt wirklich ändert, liegt's vor allem an Michail Gorbatschow. Igor Cubajs hat da seine Zweifel. Igor Cubaijs lebt in Moskau, lehrt als Philsoph, ist Mitglied der KPdSU und arbeitet gleichzeitig in verschiedenen informellen Oppositionsgruppen. Nach 15 Jahren hinter dem „eisernen Vorhang“ (Cubajs) durfte er jetzt Bremen besuchen, eingeladen vom Osteuropa-Institut an der Bremer Uni und seinem Leiter, Professor Wolfgang Eichwede.

taz: Ein halbes Leben in der Sowjetunion und jetzt seit 14 Tagen in Bremen. Wie gefällt Ihnen der Kapitalismus?

Igor Cubajs: Ich habe natürlich noch kein abschließendes Bild. Aber soviel kann ich schon sagen: Diese traditionelle Unterscheidung „hier Kapitalismus, dort Sozialismus“ - die gefällt mir nicht. In der Bundesrepublik ist z. B. das Prinzip „Bezahlung nach Leistung“ verwirklicht - das ist eigentlich ein sozialistisches Prinzip, in der BRD gibt es effektive Programme zur sozialen Unterstützung, es gibt politischen Pluralismus - nach meinem Verständnis gehört das zum Sozialismus. Umgekehrt könnte ich jetzt weit ausholen und erklären, warum in der Sowjetunion kein Sozialismus herrscht. Um es abzukürzen: Sozialismus heißt für mich Herrschaft des Volkes. Bei uns in der Sowjetunion herrscht aber nach wie vor die Bürokratie.

Nach unseren Vorstellungen in der BRD aber eine reformbereite und reformfähige Bürokratie.

Alle Veränderungen, die es in der Sowjetunion durch die Perestroika gegeben hat, haben meiner Meinung nach bislang nur kosmetischen Charakter. Es genügt ein Knopfdruck, um alles wieder zurückzunehmen. Damit ließe sich z.B. die gesamte informelle und oppositionelle Bewegung wieder in eine schreckliche Situation bringen. Die Schicht, die seit Jahrzehnten die Macht hatte, hat sie bis heute behalten. Die Alternative lautet jetzt: Entweder die Perestroika stirbt oder wir machen endlich einen radikalen Schritt und aus den kosmetischen Reformen fundamentale.

Wie müßten die aussehen?

Es müßte endlich ein Mehrparteiensystem zugelassen werden, es müßte endlich politischen Pluralismus geben. Und unsere Gruppe arbeitet genau in diese Richtung. Kurz und mit einem gewissen Pathos gesagt: Wir leben in der Sowjetunion in einer Situation, in der eine Menge von isolierten, ängstlichen Menschen sich in ein Volk verwandelt. Aber damit dieses Volk jetzt auch die Macht in die Hand nehmen kann, braucht es demokratische Einrichtugen.

Gibt es denn in der Sowjetunion Ansätze für Parteien, die gegen die KPdSU antreten könnten?

Unter den Bedingungen in unserem Land ist das nur als eine Spaltung der KPdSU vorstellbar.

Gibt es Chancen für so eine Spaltung?

Ja, davon bin ich überzeugt und dafür arbeitet unser Club. Die KPdSU ist ja gar keine Partei mehr in einem strengen Sinne. Es gibt keine wirkliche Diskussion in dieser Partei. Die Parteimitglieder dürfen Ja sagen und die Hände hochheben, wenn die Parteiführung es vorschreibt. Die KPdSU ist keine Partei, sondern eine ideologische Armee. Dabei ist sie gleichzeitig tolerant: In der Partei leben Stalinisten neben Demokraten, Karrieremacher neben ehrlichen Leuten, Aktivisten und Karteileichen.

Wozu gehört Gorbatschow?

(lacht) Wir würden das auch gerne wissen. Aber Gorbatschow hat uns die Antwort auch noch nicht gegeben, wohin er eigentlich gehört. Und wenn andere über ihn reden, dann sagen Linke, Gorbatschow ist unser Mann, und es gibt Rechte, die sagen, nein, Gorbatschow ist unser Mann. Vermutlich werden wir die Wahrheit aber bald erfahren, denn wir steuern auf die Krise der Perestroika zu. Und dann wird auch Gorbatschow sich entscheiden müssen.

Hat er sich nicht schon entschieden? Zum Beispiel, als er keine Panzer in die DDR, in die CSSR, nach Polen geschickt hat?

Außenpolitisch vielleicht. Gorbatschow hat auch die Truppen aus Afghanistan abgezogen. Aber innenpolitisch sind die alten Bürokraten an der Macht.

Was die Menschen in der DDR, in Polen und Ungarn jetzt versuchen, ist das für Sie Peristroika?

Ich glaube, daß die Polen und die Ungarn sehr viel weiter gegangen sind als wir. Sie haben den Schritt vollzogen, der bei uns fehlt. Wir müssen diesen Schritte jetzt auch tun. Wenn bei uns die allgemeine demokratische Bewegung wächst, aber die Partei weiter bleibt, wie sie ist, gibt es zwei Möglichkeiten: Die tragische und die glückliche. Die tragische kennen wir vom Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Die friedliche, angemessenste und billigste wäre die Spaltung der KPdSU, der Übergang vom Totalitarismus zur Demokratie.

Halten Sie auch die tragische Variante für möglich?

40 Minuten von Moskau stehen zwei Panzerdivisionen. Ich frage Sie, warum werden die wohl nicht abgezogen?

Gehen wir mal von der glücklichen Variante aus. Heißt das in der Sowjetunion Suche nach dem 3. Weg oder heißt das Übernahme westlicher Vorbilder?

Das System, das in der Sowjetunion herrscht, hat jedenfalls völlig versagt. Egal ob Sie das nun Sozialismus oder Bürokratismus nennen. Aber das ist die Hauptquelle für meinen Optimismus. Das System können Sie nicht reformieren. Es funktioniert einfach nicht. Sie müssen es radikal ändern.

Welche Rolle können dabei die oppositionellen Gruppen spielen?

Am 3. März wird es in Moskau Wahlen geben. Die demokratische Bewegung ist in Moskau inzwischen so stark, daß wir in allen Bezirken eigene Kandidaten aufstellen. Wir stellen Flugblätter her, wir organisieren Massenkundgebungen, auf denen schon bis zu einer halben Million Menschen waren. (auf deutsch)) Wir werden siegen.

Int.: K.S.. Das Gespräch dolmetschte netterweise Eva EhrenbergU-Satz:!!!!

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen