: Litauen ist nicht Rumpelkammer im sowjetischen Haus
Algirdas Kumza und Ruta Kumziene (KP Litauen) zu den beherrschenden Themen des Parteitages ■ I N T E R V I E W
Algidas Kumza ist Hauptabteilungsleiter im ZK der litauischen KP. Ruta Kumziene arbeitet im Verlag für Jugend und Gegenwart.
taz: Die litauische kommunistische Partei macht Ernst mit der Entwicklung eines Mehrparteiensystems.
Algirdas Kumza: Die Frage des Mehrparteiensystems in Litauen hängt schon seit geraumer Zeit nicht mehr davon ab, ob die KP es zulassen will oder nicht. Das Mehrparteiensystem ist nämlich in unserem Land schon entstanden. So sind z.B. die Grünen und die Sozialdemokraten ernstzunehmende politische Kräfte, die nach den Wahlen wahrscheinlich eine starke Rolle spielen. Jetzt geht es nur noch darum, die Gesetze dieser Realität anzugleichen. Auch die KP hat sich verändert. Sie wird auf diesem Parteitag sich Rechenschaft über ihre stalinistische Vergangenheit ablegen und neue Wege beschreiten.
Es geht wohl auch darum, jetzt wieder Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen?
Ruta Kumziene: Das Ansehen der Partei ist in der Bevölkerung auf einem Tiefstand angelangt. Wahrscheinlich brauchen wir einige Jahre in der Opposition, um dann wieder Verantwortung übernehmen zu können. Andererseits ist die politische Situation kompliziert, weil die neuen Parteien personell kaum dazu im Stande sind, das Machtvakuum auszufüllen. Bei den im Februar stattfindenden freien Wahlen in Litauen werden, das steht auf jeden Fall fest, die Stalinisten und Apparatschicks abgewählt. Erfolg dagegen werden nur diejenigen Parteien haben, die für mehr Unabhängigkeit eintreten.
Gehen auch Sie in Litauen den Weg, eine neue sozialistische Partei aus der KP zu entwickeln?
Kumza: Wir sind bei der Formulierung eines neuen Programms, in dem sowohl in der Wirtschaftspolitik - die Wirtschaft soll sich in Richtung Marktwirtschaft entwickeln - wie auch bei der Herstellung von Rechtstaatlichkeit weitgehende Reformakzente gesetzt werden. In Ungarn ist der Prozeß sicherlich weiter entwickelt. Diese Reformen wurden von Gorbatschow persönlich begrüßt, wohingegen wir für die radikale Demokratisierung in Litauen noch keine positive Antwort aus Moskau erhalten haben.
Immerhin wurde Ihr Parteichef Brasauskas noch vor Jahresfrist in Moskau freundlich begrüßt. Hängt der atmosphärische Wechsel mit der Radikalisierung Ihrer Forderungen nach Unabhängigkeit zusammen?
Kumza: Das ist nicht einfach zu beantworten. Tatsache ist, daß viele unserer Oppositionellen sich leicht tun, solche Forderungen zu stellen, das ist populär. Wir dürfen jedoch die Dinge nicht auf eine Spitze treiben. Wir könnten uns Litauen auch als Teil einer neu gebildeten Union vorstellen. Grundsätzlich brauchen wir hier mehr Autonomie, um die Wirtschaft weiterzuentwickeln. So wurde ein Gesetz für die Schaffung einer eigenen Währung vorbereitet. Auch ein Bürgerrechtsgesetz ist beschlossen.
In Moskau wurde jüngst im Obersten Sowjet nur nachvollzogen, was hier schon beschlossen war. Immerhin, denn ohne das Einverständnis der Zentrale könnte wir hier nichts tun. Wir müssen aber weg von der zentralen Kommandowirtschaft, die Ministerien aus Moskau sollen in Zukunft nicht mehr in unsere Angelegenheiten hineinreden dürfen. Für das grüne Licht aus Moskau war es allerhöchste Zeit, Gorbatschow hat bei uns schon viel an Popularität verloren. Jeder weiß zwar, daß ohne ihn überhaupt keine Reformen zustandegekommen wären, doch hat er andererseits auch nicht dazu beigetragen, das Selbstbestimmungsrecht der Völker in der UdSSR durchzusetzen. Er hat nicht einmal diese Kategorie in den Mund genommen.
Sprechen wir vom Bürgerrechtsgesetz. Es bedeutet doch, daß nur Litauer in Litauen volles Stimmrecht haben. Ist da nicht den anderen, den Zuwanderern, ein Stück Selbstbestimmungsrecht genommen?
Kumziene: Das stimmt nicht, alle Bürger Litauens haben gemäß dieses Gesetzes, das am 3.November beschlossen wurde, volles Stimmrecht. Alle, die in unserem Land wohnen und arbeiten, haben volle Bürgerrechte, nur diejenigen, die nach dem Inkrafttreten des Gesetzes in das Land kommen, werden in Zukunft erst nach einer Zehnjahresfrist über die Belange Litauens bestimmen können.
Es ist in Westeuropa, wo seit Jahren die Grenzen überwunden werden und alles auf mehr Zusammenschluß drängt, schwierig zu verstehen, warum in Ostmitteleuropa die zentrifugalen Kräfte Oberhand gewinnen. Ist die Frage der nationalen Selbstbestimmung in Litauen vor allem auch eine Frage des politischen und gesellschaftlichen Systems?
Kumza: Wogegen wir uns wenden, ist ein koloniales System, das in der langen Tradition Rußlands entstanden ist. Auch wenn Westeuropa jetzt nur die DDR, Ungarn und Polen sieht, so wollen doch auch wir größere Kontakte mit der westlichen Gemeinschaft. Wenn wir in ein neues europäisches Haus ziehen wollen, dann in ein eigenes Zimmer, das in Ordnung ist und nicht in einen Abstellraum eines Imperiums.
Interview: Erich Rathfelder
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