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„Sozialamt diskriminiert Behinderte“

■ Beratungsstelle Selbstbestimmt Leben: „Menschenrechtsverletzungen“

Andrea, 27, hat Multiple Sklerose und ist seit fünf Jahren auf den Rollstuhl angewiesen. Seit August dieses Jahres macht sie ihr Fachabitur. Sie geht anderthalb Tage in der Woche zur Schule und ist dreieinhalb Tage Praktikantin in einem Kindergarten. Später möchte sie Sozialpädagogin werden. Das alles ist nur möglich, weil die arbeitslose Sozialpädagogin Katharina ihr als Assistentin zur Seite steht. Die Ausbildung und auch die Beschäftigung der Assistentin sind von der Sozialbehörde ausdrücklich als wünschenswert und förderungswürdig bewertet worden. Nur: Die Abteilung für wirtschaftliche Hilfen bezahlt lediglich sieben Stunden am Tag für alle nötigen Hilfen von Andrea. Drei davon braucht die Pflegerin, bleiben vier. Katharina aber hilft häufig acht Stunden am Tag. Katharina würde ihr Auto abschaffen, wenn sie nicht Andrea damit fahren müßte. Der Vorwurf des Vereins „Selbstbestimmt Leben“: Obwohl das Gesetz eindeutig aussagt, ambulante Hilfen seien stationären vorzuziehen, entscheidet das Sozialamt ausschließlich nach Einsparungskriterien.

Ein anderer Beispiel: Hans Dieter, der bisher umfassende ambulante Hilfen erhielt, wird vom Sozialamt ultimativ aufgefordert, sich einen Heimplatz zu suchen. Dank massiver Proteste wird das Ultimatum durch das Sozialamt Osterholz zurückgenommen und die Sache zur weiteren Entscheidung dem Senator für Soziales vorgelegt, wo sie seither in der Widerspruchsstelle schmort.

In den Augen von Harry Meyer, Mitarbeiter von Selbstbestimmt Leben, ist das „Menschenrechtsverletzung“. Meyer: „Selbstbestimmt leben heißt auch in selbstgewählter Umgebung leben. Dazu kommen die Unsicherheiten, denen die Behinderten ausgesetzt werden. Eine vernünftige Lebensplanung ist so nicht möglich. Das stellt eine große psychische Belastung dar.“ Monika Strahl, selbst auf den Rollstuhl angewiesen, ergänzt: „Die Diskussion wird immer um das Geld geführt, als sei das für Behinderte dasselbe wie für andere sozial Benachteiligte. Aber Geld bedeutet für Behinderte mehr, nämlich grundlegende Bedürfnisse der Selbstbestimmung zu befriedigen, Dinge, die für Nichtbehinderte selbstverständlich sind. Darin liegt die Diskriminierung.“

Horst Frehe, Bürgerschaftsabgeordneter der Grünen, moniert vor allem die Kluft zwischen Gesetz und Entscheidungspraxis in der Verwaltung: „Was in der Bürgerschaft diskutiert wird, erreicht gar nicht die Verwaltung. Dazu kommt, daß nicht umfassend beraten und informiert wird. Dadurch werden die Behinderten vorsätzlich um ihre Rechte betrogen. Man kann nur noch individuell über den Rechtsweg etwas erreichen. Das Verwaltungshandeln grenzt an Rechtsbeugung.“ Nach Frehes Schätzung, die er aufgrund der Einsicht in unzählige Bewilligungsbescheide - vor allem auch bei geistig Behinderten - abgibt, bekommen 90 Prozent nicht die ihnen zustehenden Gelder. Frehe: „Jeder bekommt etwa 200 DM weniger als ihm zusteht.“

Beate Ramm

Beratungsstelle „Selbstbestimmt Leben“, Ostertorsteinweg 98, Tel. 704409, 9 bis 15 Uhr

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