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Stampede am Brandenburger Tor

■ Die historische Stunde: ein Alptraum / Die WiedervereinigerInnen bestimmen die Szenerie / Kanonenschläge und Leuchtkugeln fliegen in die Menge / „Doitschland, Doitschland„-Rufe gegen „Scheiße, Scheiße“ / Die internationale TV-Journaille zoomt um die Wette

Immer an der Wand lang durch die braune Soße mit dem astronomischen Quadratmeterpreis. Vorbei an den Selbst-ist -der-Männern, die früher mit der JU-Ortsgruppe im bezirklichen Einkaufszentrum standen und symbolische Schandmauern aus Ytong hochzogen. Jetzt sind sie verbissen und verregnet mit Hammer und Meißel zugange, panisch, das Tor ist offen, wer weiß, wie lange die Mauer noch steht.

Schnell erwerben Touristen von außerhalb des deutschen Großraums und Durchhalte-Berliner noch ein authentisches Weihnachtsgeschenk. Viele sind mit Sektflaschen bewaffnet. 28 Jahre warten macht Durst, Was-soll-es-erst-Silvester -wer'n. Am Tor ist die Stimmung leicht gereizt. Man tritt sich auf die Füße, wegen der vielen Schirme ist so gut wie nichts zu sehen, das offizielle Programm findet sowieso hinter der Mauer statt.

Als der Politconferencier, von drüben über einen Lautsprecherkran zu hören, pathetisch die vier Oberhäupter ankündigt, drängt die Menge nach vorn. „Doitschland! Doitschland!“ Leuchtkugeln werden in die Menge abgefeuert, Kanonenschläge gezündet. Momper hebt die Stimme: „Nun freue dich, Berlin!“

Modrow bittet um die Gnade der Weihnachts- und Neujahrsinvasionäre, deren Rache fürchterlich sein wird. Helmut! Helmut! bringt noch mal seinen DDR-Besuch ins Spiel, Momper macht Punkte mit Ceausescu. Immer wenn die Vorsilbe „frei“ durchschnarrt, geraten die Bomberjacken mit der Reichskriegsflagge in Rage. Sie sitzen in den Bäumen, da, wo der Germane hingehört, sehen zuerst, daß diesmal die Ostler massenhaft die Restmauer erklimmen. Kanzler im Ohr, Landsleute im Blick, da freut sich die Christenheit, und Äste prasseln herab. Einer erklimmt mit irrem Grinsen im Gesicht den Schutzwall, wobei er einer ARD-Reporterin verrät: „Jetzt ist das Tor auf, dann fällt die ganze DDR. Huhaha.“

In eine Grölpause hinein versucht sich vorne ein Trupp Palästinensertüchler durchzusetzen: Deutschland weg, Deutschland weg. Von hinten beantwortet eine Gruppe junger türkischer Frauen jeden „Deutschland!„-Ruf, der aus den Baumkronen ertönt, mit „Scheiße!“ oder Trillerpfeifen. Keine Chance gegen die Mauerkrone, die, von einem Trompeter unterstützt, „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ skandiert. Hinter dem löchrigen Vorhang leiert von Ferne eine Leipziger Drehorgel zurück: „Ja das ist die Berliner Luft!“

Schirmspitzen ragen bedrohlich in die Höhe, schubsen, drängeln, drücken. Eltern reißen ihre Kinder hoch, weil sie sonst plattgewalzt würden. Leicht Verletzte werden zu den Ambulanzen geführt. Die historische Stunde: ein Alptraum.

Ein alter Mann murmelt in eine Kamera „Hier hab ick als Kind jespielt!“ Teams aus aller Welt zoomen um die Wette, wo sind die tränenerweichten Trümmerfrauen, die schwarz-rot -goldnen Pudelmützen und die volkspolizeilichen Blumengestecke? Eine Privat-Minolta richten sich auf das welthistorische Panorama, aber der Blitz leuchtet nur den Hirschledermantel des Vorstehenden aus. Eine britische Touristin fragt sich schüchtern-interessiert durch die Reihen. Sie möchte die rhetorischen Höhenflüge von jenseits der Mauer übersetzt haben. „I fear it's not worth it“, analysiert ein Jungautonomer, und die Dame gibt auf. Ein Zoni springt von der Mauer einem TV-Team in die Arme. „Ick bin über die Mauer jekommen, Grenzübergang kann ja jetz‘ jeda“.

kotte

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