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Das Volk hat Ceausescu verjagt

■ Radio Bukarest: „Der Tyrann ist fort, wir haben gesiegt!“ / Armee verbrüdert sich mit dem Volk / Präsidentenpalast und ZK-Gebäude gestürmt / Ceausescu auf der Flucht verhaftet / „Nationalkomitee für die Demokratie“ übernahm die Macht / Ceausescu-treue Truppen versuchen Gegenangriff

Bukarest / Belgrad / Berlin (dpa/afp/ap/taz) - Rumäniens Despot, Staats- und Parteichef Nicolae Ceausescu, ist gestern mittag vom Volk gestürzt worden. Nach zunächst erfolgreicher Flucht wurde er am Nachmittag von der Armee festgenommen. Die Macht in Bukarest hat ein „Nationalkomitee für die Demokratie“ unter Leitung des ehemaligen Außenministers Manescu übernommen. Ihm gehören nicht kompromittierte Militärs, Arbeiter und Intellektuelle an. Der von Ceausescu abgesetzte frühere ZK -Sekretär Ion Iliescu gab die Bildung des Komitees bekannt.

In der ganzen Stadt herrschte Jubel. „Wir sind das Volk“, rief die Menge, und im rumänischen Rundfunk hieß es: „Wir haben gesiegt.“ Der rumänische Dichter Mirca Dinescu verkündete über den Sender: „Der Tyrann ist weggelaufen, das Volk hat gesiegt.“ Sprecher der Demonstranten riefen die Bevölkerung dazu auf, keine Gewalt gegen die Unterlegenen anzuwenden. Die Verantwortlichen sollten vor Gericht gestellt werden.

Auslöser des Aufstands war am Morgen offenbar die Meldung vom angeblichen Selbstmord von Verteidigungsminister Vasile Milea, der sich geweigert haben soll, gegen das Volk vorzugehen. Daraufhin verbrüderten sich zahlreiche Soldaten mit den Demonstranten, stürmten Präsidentenpalast und ZK -Gebäude und besetzten die staatlichen Rundfunk- und Fernsehstationen. Während in Bukarest längst die Straße die Macht übernommen hatte, gingen in Sibiu und Temesvar die Massaker von Geheimpolizisten weiter. Am Abend kam es zu erneuten Kämpfen mit Ceausescu-treuen Truppen, die mit Panzern auf das Rundfunkzentrum von Bukarest zumarschierten.

Ceausescu und seiner Frau war am Morgen zunächst per Hubschrauber die Flucht aus dem Präsidentenpalast gelungen. Sie setzten ihre Flucht im Auto fort, nachdem sie auf dem Militärflugplatz von Titu entdeckt worden waren. 70 Kilometer nordwestlich von Bukarest wurden sie dann festgenommen.

Das neue „Nationalkomitee für Demokratie“ trat gestern gegen 16 Uhr zusammen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Präsident des neuen Komitees ist Corneliu Manescu, zwischen 1961 und 1972 Fortsetzung auf Seite 3

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Außenminister, später Präsident der UN-Vollversammlung. Seit vergangenem April stand er unter Hausarrest, nachdem er gemeinsam mit fünf weiteren rumänischen Ex-Politikern in einem offenen Brief an Ceausescu die Politik des Regimes kritisiert hatte.

Aus anderen Landesteilen wurde gemeldet, die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Aufständischen seien noch im Gange. In Temesvar, wo es zu ersten Protesten

gegen das Regime gekommen war, beugte sich nach Angaben eines Augenzeugen die Armee einem Ultimatum der Aufständischen und zog aus der Stadt ab. Die Demonstranten hatten im Falle eines Verbleibens der Militärs in der Stadt gedroht, den großen petrochemischen Komplex der Stadt in die Luft zu jagen. Nach Auskunft eines rumänischen Amateurfunkers sind vor der Stadt zwei Massengräber mit über 600 Leichen entdeckt worden. Die Bevölkerung sei dabei, sie zu identifizieren.

Aus Hermannstadt in Siebenbürgen berichtete das rumänische Fernsehen von anhaltenden Kämpfen zwi

schen Armeeeinheiten und dem Staatssicherheitsdienst Securitate. In Hermannstadt (Sibiu) war Ceausescus Sohn Nicu Parteichef. Wie ein Bürger der Stadt telefonisch übermittelte, sollen „asiatisch aussehende Soldaten“ in die Kämpfe verwickelt sein.

Die Ostberliner Nachrichtenagentur 'adn‘ berichtete, 4.600 Menschen seien allein in Temesvar getötet, 1.860 verhaftet worden. 7.000 seien zum Tode verurteilt worden. Auch in Caiova, Rechitza und Neumarkt Mures gingen die Kämpfe weiter. In Arad seien Kinder von Eltern, die an Demonstrationen teilge

nommen hätten, aus Schulen geholt und erschossen worden.

In letzter Minute hat der Staatsrat der DDR beschlossen, dem „bewährten und weisen Lenker der Heimat“ den kürzlich verliehenen Karl-Marx-Orden wegen seiner massiven Menschenrechtsverletzungen abzuerkennen. Diesem Beispiel folgte auch die britische Königin. 1978 hatte sie dem Despoten mit der für einen Ausländer höchsten Auszeichnung, dem Großen Ritterkreuz des Ordens von Bath, den Adelstitel verliehen.

Als Reaktion auf den Sturz Ceausescus reagierte Nordkorea mit einer Eloge auf den Landesvater Kim Il

Sung und erklärte ihn und den Sozialismus für unfehlbar. In der Parteizeitung 'Rodong Sinmun‘ erschien auf den ersten beiden Seiten ein außergewöhnlich langer Leitartikel mit dem Titel „Laßt uns auf dem Weg des Sozialismus tüchtig voranschreiten und die Herausforderung der Imperialisten zurückweisen“. Darin heißt es unter anderem, Verzögerungen in der wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung könnten den Sieg des Sozialismus nicht aufhalten. Krisen in sozialistischen Ländern gingen nicht auf ein mangelndes Warenangebot zurück, sondern auf den Mangel an kommu

nistischer Ideologie. In Nordkorea sei die Revolution unter Führung des „großen Leiters“ Kim Il-Sung und des Zentralkomitees der Partei ohne jedes Schwanken durchgeführt worden. Deshalb gebe es auch keine Arbeitslosen, Bettler, Rauschgiftsüchtige, Alkoholiker oder Perverse im Land.

Als letzte Meldung kam aus Bukarest ein Aufruf, die Ruhe zu bewahren und „weiter zu demonstrieren, bis das Regime endgültig gestürzt ist“. Für die nächsten Stunden wurde bereits das Erscheinen der ersten unabhängigen Zeitung mit dem Titel 'Libertate‘ angekündigt.

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