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„Die Begeisterung hat mich dort hochgetragen“

Im „Menschenteppich“ hinauf zur Nike: Der Übersetzer Karl B. (33) kletterte in der Silvesternacht mit Freunden auf das Brandenburger Tor / Als er um 1 Uhr herabstieg, saßen oben schon vier Leute auf jedem Pferd / 98 Prozent junge athletische Männer - und drei „sehr kleine und leichte“ Frauen  ■ I N T E R V I E W

taz: Du bist Silvester nacht auf dem Brandenburger Tor gewesen. Wann, wie und warum bist du da hochgeklettert?

Karl B.: Wir sind um halb zwölf auf dem Pariser Platz angekommen. Meine Freunde hatten den Wunsch, mal durchs Brandenburger Tor zu gehen, weil das 28 Jahre nicht möglich war. Auf der einen Seite kletterten die Leute schon auf dem Gerüst rum. Das sah ziemlich prekär aus, auf der anderen Seite sah man die Leute im Tor in dem Kamin zwischen den dorischen Säulen an dem Regenfallrohr bzw. an dem abgerissenen Blitzableiter und den elektrischen Kabeln hochklettern. Erst dachte ich, das geht doch gar nicht, da ist doch gar nichts, woran man sich festhalten kann. An dem Tor war ein unheimliches Gewühl, von hinten schoben die Leute nach, und du konntest nicht mehr zurück. Ich bin auf den Vorsprung der einen Säule geklettert, habe den Halt verloren, bin aber nicht runtergefallen, weil man einfach zwischen dem sich entlanghangelnden Menschenteppich festhing. Dann hab‘ ich mich Stück für Stück an der Regenrinne hochgehangelt. Trittfläche hatte man nur auf den zwei Zentimeter schmalen Klammern. Aber die Begeisterung hat einen hochgetragen.

Was waren da oben für Leute?

Als ich um zehn vor zwölf oben war, waren da Leute aus der ganzen Welt. Das war eine sehr schöne Erfahrung. Zuerst traf ich einen Australier, dann zwei englische Punks, die extra aus London gekommen waren, um das mitzukriegen. Außerdem waren da einige Leute aus Norddeutschland, ein paar Schwaben, Westberliner, ein Japaner, Franzosen, Italiener. Es war nichts Nationales, es war international. Als wir hochkamen, waren ein paar Dutzend Leute oben. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Leute auf dem Gerüst nämlich noch nicht gecheckt, daß man zum Tor rüberklettern konnte. Als wir um kurz vor eins wieder runter sind, waren es sicher schon über 100. Zu 98 Prozent waren es junge, sehr atlethische Männer. Ich habe nur drei Frauen gesehen, die waren sehr klein und leicht und sind vielleicht hochgehoben worden. Die wenigen älteren Leute, die da oben waren, haben geguckt, daß die anderen nicht zu nah an den Rand gehen.

Warum wurde die DDR-Fahne runtergeholt und die Quadriga und das Tor beschädigt?

Als ich hochkam, war die DDR-Fahne schon nicht mehr da. Ich habe aber mitbekommen, wie ein paar Freaks in Lederjacken, ich nehme an, Punks aus Ost-Berlin, die DDR- und BRD-Fahnen und die Europafahne verknüpft und hochgezogen haben. Später hat noch einer eine kanadische Fahne hochgezogen. In der Euphorie sind immer mehr Leute auf die Quadriga draufgeklettert. Wenn es noch ausgeartet ist, dann erst, als wir schon wieder unten waren. Als wir dann runter sind, saßen auf jedem Pferd schon vier Leute. Die Nike hatte den Kranz noch auf, und das Dach war noch ganz.

Wie seid ihr runter?

Erst wollten wir über das Gerüst, sahen dann aber, daß es total voll und ziemlich wackelig war. Daraufhin sind wir neben der Regenrinne und an den in Plastik eingepackten Stromkabeln an der Feuerleiter runter.

Eine halbe Stunden später ist das Gerüst zusammengebrochen.

Ich habe mich sehr erschrocken, als ich das gehört habe. Aber ich finde es nicht sträflich, daß Leute da hochgeklettert sind, sondern, daß das Gerüst so nah an dem Tor aufgestellt worden ist. Dann wären nämlich nur Leute hochgekommen, die das noch übersehen konnten.

Interview: plu

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