piwik no script img

Wenn es nur die kleinste Perspektive gäbe...

■ Warum Oung Chamnan (29) aus Kampuchea und seine Freundin Phan Hai (36) aus Vietnam aus der DDR nach West-Berlin - und in die völlige Ungewißheit - flohen / Weihnachtsschokolade gab's in Magdeburg „nur für Deutsche“

Am 22. Dezember saß Oung Chamnan aus Kampuchea bei Ostberliner Freunden vor dem Fernseher. Über den Bildschirm flimmerte die Direktübertragung von der Öffnung des Brandenburger Tores, die Reden der Staatsmänner und Walter Mompers denkwürdiger Satz „Berlin, nun freue dich“. Oung griff seine Jacke und ließ sich wenig später im Gedränge der Massen nach West-Berlin schieben.

Neun Tage später, am 31. Dezember kurz vor Mitternacht, stand Phan Hai, Oungs vietnamesische Freundin, inmitten national- und alkoholtrunkener Menschen am Brandenburger Tor - erst auf der Ost-, dann auf der Westseite. Im überfüllten Aufnahmeheim in der Streitstraße haben sich Oung und Hai wiedergetroffen. Ihm hat man inzwischen einen Platz im Container zugewiesen. Sie muß auf einem der Notbetten im Speisesaal schlafen. Vor einem Jahr hatten sich die beiden in Magdeburg kennengelernt. Oung, 29, Student für Bauwesen aus Kambodscha, und Hai, 36, aus Vietnam, Arbeiterin in einem Textilbetrieb. Sie wollen heiraten - später, wenn das Asylverfahren vorbei ist und sie Arbeit haben.

Daß Phan Hai jetzt im Westen in einem Flüchtlingsheim sitzt, davon weiß ihre Familie in Ho-Chi-Minh-Stadt noch nichts. Irgendwann wird wohl jemand von den Behörden bei ihrer Mutter und Schwester vorbeikommen und Fragen stellen. Zumindest in dieser Hinsicht sei er besser dran, meint Oung. Seine gesamte Familie - Eltern, Geschwister, Onkel und Tanten - sind von der Roten Khmer, den Truppen Pol Pots, ermordet worden. Er selbst ist als Vollwaise aufgewachsen. „Also haben sie auch niemand, den sie bedrohen können, weil ich abgehauen bin.“ Nach Beendigung des Studiums wäre Oung Chamnan wieder nach Hause geschickt worden - mit der Aussicht auf ein innenpolitisch chaotisches Land und seine Rekrutierung in die Armee. Mit dieser Perspektive ließe sich das Heimweh leichter ertragen - und zu Hause sei eh keiner, an den er gerne denkt.

Phan Hai hofft, daß ihre Angehörigen keine Schwierigkeiten bekommen. Falls sie selbst zurückgeschickt wird? Sie verschränkt die Finger zu symbolischen Gitterstäben und hält sie vor ihr Gesicht.

Vor einem Jahr kam sie aus Ho-Chi-Minh-Stadt nach Magdeburg. Sie, die in Vietnam Ökonomie studiert und eine kleine Baubrigade geleitet hatte, wurde vom Staat für „vertrauenswürdig“ genug erachtet, um im sozialistischen Bruderland arbeiten zu gehen. Im Rahmen eines bilateralen Abkommens schickt Vietnam seit neun Jahren Arbeitskräfte in die DDR. Hai kam in eine Textilfabrik und mit sieben anderen Vietnamesinnen in eine Wohnung. Mit Deutschen hat sie kaum Kontakt gehabt - daran änderte auch der einmonatige Sprachkurs zu Beginn ihres DDR-Aufenthalts nichts. Nach Angaben des DDR-Ministeriums für Arbeit und Löhne sind ausländische Arbeitnehmer den DDR-Werktätigen gleichgestellt - mit einer Ausnahme: wer gegen geltende Gesetze oder gegen die Arbeitsdisziplin verstößt, riskiert, nach Hause geschickt zu werden. „Immer nur arbeiten und arbeiten. Selbst wenn eine von uns krank wurde, hieß es, wir seien faul.“

Vietnamesinnen, die während des fünfjährigen Aufenthalts schwanger werden, droht die Heimreise. Das Abkommen sei nun mal kein „Ansiedlungsprogramm“, erklärt dazu der Abteilungsleiter für ausländische Arbeitskräfte im Ministerium, Jürgen Schröder. Die Schwangerschaft behindert den Arbeitseinsatz - so eine Erklärung der DDR und der vietnamesischen Botschaft. Phan Hai weiß von einer Kollegin, die ihre Schwangerschaft bis in den siebten Monat geheimhielt.

Fünf Tage die Woche habe sie neun Stunden am Tag gearbeitet - Kleider zusammengenäht. Den DDR-Kolleginnen seien oft die einfacher zu nähenden Arbeitskleider gegeben worden - und damit die Möglichkeit, Stückzahl und Prämien zu erhöhen. Wenn von der Betriebsleitung für nötig befunden, mußte samstags eine Schicht zugelegt werden. In manchen Monaten, so Phan Hai, habe sie kaum über 200 Mark verdient. Viele ihrer Landsleute legten freiwillig Sonderschichten ein, um von dem Geld Waren nach Hause schicken zu können. Zwölf Prozent des Gehalts behält der vietnamesische Staat ein. Aber auch mit dem Rest konnte sie nicht einfach einkaufen gehen. Mopeds, Fahrräder und Nähmaschinen sind bei den Vietnamesen begehrte Artikel, die ihrer Familie zu Hause das Überleben sichern könnten. Ihre Kauflust hat sie, ähnlich wie die Polen, bei vielen DDR-Bürgern zu Sündenböcken für die Warenknappheit werden lassen. Die fünf Tafeln Schokolade, die Phan Hai für ihre Familie kaufen wollte, habe ihr die Verkäuferin mit der Bemerkung „Nur für Deutsche“ wieder aus dem Korb genommen. „Wenn man hier was einkauft, regt man die Produktion an und wird nicht beschimpft.“ Oung verbucht darin einen Pluspunkt für den Westen.

Als die beiden zum ersten Mal ihr neues Quartier in der Streitstraße sahen, sind sie schon ein bißchen erschrocken. „Aber das geht wohl nicht anders, wenn plötzlich so viele Leute kommen“, sagt Hai und zeigt auf ihre Landsleute. Fast fünfhundert sind in der Streitstraße untergekommen. Irgendwo werden sie in die Hierarchie der Minderheiten, zwischen Aussiedlern, Übersiedlern und Flüchtlingen gepreßt werden. Durch die zerbrochenen Fensterscheiben der Eingangstüren lugen einige Kinder polnischer Aussiedler, von den Neuankömmlingen sichtlich irritiert. Sie begreifen erst einmal nur eines: daß es nun im Heim noch voller und noch chaotischer wird. Die Hackordnung schlägt sich auf ihre Weise in den Köpfen der Kinder nieder. „Wo uns schon die Türkenkinder immer das Eis wegessen.“ Nein, wenn sie auch nur die kleinste Perspektive in ihrer Heimat hätten, sagt Oung, „dann würden wir nicht hier sitzen“.

anb

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen