piwik no script img

Ein Triumph der Simulation?

■ Drei japanische Privatunternehmen haben in Tokios Vorstadt Tama eine „Modellsiedlung“ gegründet, „wie es sie in Japan nie gab“ Die Bewohner gehören zum „neuen japanischen Mittelstand, der seinen Wohlstand auskosten will“ / Eine Besichtigung

Ch. Yamamoto und G. Blume

Tokio zur Jahreswende. Sechs Uhr früh in Shinjuku, einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte der Hauptstadt. Die Straßen sind bereits voller Menschen. Glänzende Schaufenster. Lichtreklamen blinken an jeder Betonwand. Kaufhäuser türmen sich in den Himmel. Tokio eben, wie man es auf tausend Bildern gesehen hat, Zentrum der japanischen Wirtschaftsmacht und des Reichtums auf Erden. Zentrum der neunziger Jahre.

Am Bahnhof von Shinjuku schläft der Bettler zu früher Stunde noch auf seiner Bank. In der Nudelsuppenbar, gleich hinter dem Fahrkartenschalter, löffelt der Koch bereits die heiße Brühe. Vier Bauarbeiter, denen die Nachtschicht im Gesicht geschrieben steht, lassen sich das warme Frühstück schmecken und hauen noch ein rohes Ei in die Suppe. Um sie herum bilden die Menschen einen fließenden Strom, immer auf dem Weg zur Arbeit. Fährt hier der Zug ab ins nächste Jahrtausend?

Dumme Frage, wir nehmen einfach den Zug nach Tama New Town. „Die Zukunft Tokios liegt in Tama“, hat die Tokioter Stadtverwaltung versprochen. Tama New Town gilt als das modernste und aufwendigste Städtebauprojekt in Tokio und Umgebung. Ein in der Hauptstadt verbreitetes Gerücht besagt, daß es sich in Tama ganz hervorragend leben ließe, zumindest im Vergleich zu dem, was Tokio sonst zu bieten hat.

Tama sei der ehrgeizige Versuch, den Bürgern wahrhaftigen Wohlstand zu bieten, hat einmal die Tageszeitung 'Asahi Shinbun‘ geschrieben. Die stadtbekannte Politikerin und Feministin Mariko Mitsui prophezeite sogar, in Tama entstehe ein urbanes Modell fürs postindustrielle Zeitalter. Wo also liegt dieser Ort der Moderne? In Tokio ist viel von Tama die Rede, doch nur wenige sind schon einmal dort gewesen. Die Züge fahren alle zehn Minuten ab Shinjuku. Der Schaffner winkt. 6 Uhr 32, die Fahrt geht los.

Der Weg nach Tama

Langsam weichen die Hochbauten von Shinjuku zurück. Durch Tunnelschläuche, über Autobahnbrücken kommt der Keio-Expreß in Schwung, gleitet scheinbar lautlos durchs lärmende Verkehrschaos. Dicht gedrängte Siedlungen erscheinen bald am Schienenrand. Es sind die berüchtigten „Kaninchenställe“, winzige, ineinander verschachtelte Wohnhäuser, wo sich ganze Familien oft ein einziges Zimmer teilen.

Dann wechselt noch einmal das Stadtbild, der Keio-Expreß hält in Shimo-Kitazawa, dem neuen Szene-Viertel der Yuppie -Generation, voller Kneipen, Cafes und kleiner Jazzbars. Die junge Stadt-Schickeria trägt hier ihre Mode zur Schau, fühlt sich wohl in der Enge, trinkt Martini statt Reisschnaps. Auf dem Bahnsteig ist angezeigt: noch 25 Minuten bis Tama.

Unendliche Wohnhauswüsten umgeben Tokio. Mal sind es kleine Holzhaussiedlungen, mal Reihenhäuser aus Beton. Endlich erscheinen im Westen die hohen Berge von Okutama, der Keio -Expreß überquert auf einer langen Brücke den Tama-Fluß, Felder rauschen vorbei, plötzlich tauchen Neubauten auf, und prompt hält der Zug in Tama, 7 Uhr 04, 32 Minuten nach Shinjuku.

Der Bahnsteig gegenüber ist voll. Dort stehen vornehmlich Männer im Büroanzug, die meisten mittleren Alters. Im Bahnhof fehlt die gewöhnliche Nudelsuppenbar. Es herrscht angenehm wenig Gedränge. Kein Clochard in Sicht, und keine Bauarbeiter. Dann der Schritt vors Bahnhofstor und der erste Blick auf Tama. Eine andere Stadt, eine neue Stadt, prunkvoll, großzügig, gigantisch. Vergessen das Chaos von Shinjuku. Tama blendet schon beim bloßen Hinschauen.

Vom Bahnhof führt eine hundert Meter breite Fußgängerallee den Hang hinauf. In der frühen Dämmerung ist sie voll erleuchtet. Glitzernde Neubauten säumen den Weg. Weit oben in der Ferne steht eine Art Torbogen auf dem Gipfel am Ende der Allee. Dorthin zieht es den Ankömmling. Bald gibt es für europäische Augen keinen Zweifel mehr: Das ist ein japanischer Champs-Elysees, die großzügige Allee, die prunkvollen Geschäfte, und endlich angekommen auf dem Hügel steht ein Triumphbogen ohnegleichen, quadratisch der Bau, gigantisch die Darbietung.

Die Sonne ist aufgegangen, und seine Säulen glänzen silbern -orange im Morgenlicht. Von seiner Höhe erkennt man, noch undeutlich, die umliegende Stadt. Weiße Wände und rote Dächer bedecken die Hänge des Tama-Tals. Alles hier wurde in den vergangenen 20 Jahren errichtet. Große Wohnblocks im Stil westlicher Betonvorstädte sind kaum zu erkennen. Hier hat man weitläufig gebaut.

Weiter nach Westen ist die Aussicht grandios. Dort schmückt der Fujiyama den Horizont. Japans höchster, heiliger Berg, der nur selten, an ganz klaren Tagen, von der Hauptstadt Tokio zu sehen ist. In Tama erscheint er nun ganz nah. Die Japaner lieben ihren Fuji-san. Unter dem Triumphbogen in Tama verharren Büroangestellte beim Sonnenaufgang mit Blick auf den Berg.

Im Rathaus von Tama

Immer mehr Männer eilen zum Bahnhof. Kinder in Schuluniform radeln über die Fußgängerallee. Wir sind zur Begrüßung beim Bürgermeister geladen. Chiaki Usui, 60, ist ein vornehmer älterer Herr mit charmantem Lächeln und steifer Gestik. Gemessen an der beeindruckenden Größe des neuen Rathauskomplexes mit seiner blankgeputzten Eingangshalle, ist das Empfangszimmer des Bürgermeisters eher bescheiden eingerichtet. Herr Usui, ein unabhängiger Konservativer, der Tama seit zehn Jahren regiert, legt offenbar wenig Wert auf Selbstdarstellung. „Tama ist ja eine junge Stadt, obwohl es archäologische Funde gibt, die beweisen, daß Menschen schon vor 10.000 Jahren hier lebten“, hebt der Bürgermeister an. „In den Grenzen von heute aber besteht Tama erst seit 25 Jahren. Damals betrug die Einwohnerzahl 30.000, heute etwa 140.000, und in zehn Jahren sollen über 300.000 Menschen hier wohnen. Aus allen Ecken Japans kommen die Menschen nach Tama. Es ist für uns eine sehr unruhige Zeit.“

Chiaki Usui, so stellt sich schnell heraus, ist ein überforderter Mann. „Charakteristisch für Tama im Vergleich zu anderen Städten ist heute, daß ein Großteil der Bewohner um die 40 Jahre alt ist. Das sind Leute, die als junges Paar nach Tama gekommen sind und jetzt ein bis zwei Kinder haben. Proportional zur Einwohnerzahl haben wir mehr Schulen und Kindergärten als irgendeine andere Stadt in Japan.“ Mit den Ansprüchen der neuen Bewohner, so gibt Chiaki Usui denn auch zu, sei es schwer, Schritt zu halten.

Immerhin, untätig ist das Rathaus trotzdem nicht geblieben. Der Triumphbogen von Tama ist Teil eines modernen Kulturzentrums, für dessen Bau die Stadt zwischen 1984 und 1987 eine Milliarde DM aufbrachte. Das ist annäherend der Preis der neuen Oper in Paris. „Diese Anstrengung haben wir unternommen, damit Tama erwachsen wird“, meint Chiaki Usui ohne jede Prahlerei. Denn eigentlich sieht er die Dinge so: „Tama New Town ist, wenn man es genau nimmt, das Projekt einiger großer Unternehmen. Ich konnte das nur unterstützen.“ Zum Abschied überreicht uns Chiaki Usui ein Andenken an die Stadt Tama - eingewickelt im Geschenkpapier der Keio-Gruppe, deren Züge Tama mit Tokio verbinden.

Eine Kapitalanlage als Stadt

Nicht der Bürgermeister, nicht die Stadt Tokio, noch weniger der japanische Staat haben die neue Stadt Tama geschaffen, sondern im wesentlichen drei Privatunternehmen. Sie heißen Keio, Jutaku-Kudan und Sogo. Keio übernahm die Verkehrsplanung, Jutaku-Kodan den Stadt- und Siedlungsbau, Sogo das Warenangebot. Sie einigten sich auf den Namen „Tama New Town“ und handelten stets „im Einvernehmen“, wie es sich unter Großen in der japanischen Wirtschaft geziemt. Geld spielte gewissermaßen keine Rolle mehr.

Shigeru Yoshida, Vorstandsmitglied der „Tama -Stadtentwicklungsgesellschaft“, nennt die Ziele des Tama -Projekts: „Tama New Town wurde geplant, um die Wohnungsnot im Zentrum von Tokio zu lindern und die willkürliche Entwicklung der Vorstädte zu stoppen. Uns ging es darum, attraktive und angenehme Wohnungen zu bauen mitsamt einem Stadtzentrum, in dem Kultur und Freizeit auf hohem Niveau gestaltet werden.“ Yoshidas Gesellschaft gehört der bereits erwähnten privaten Wohnungsbaugesellschaft Jutaku-Kodan an, bei der der japanische Staat ein Drittel der Aktien hält.

Annähernd 700 Millionen DM investierte die Tama -Stadtentwicklungsgesellschaft allein in den Bau eines Kaufhauses, das heute an die Firma Sogo vermietet wird. 20.000 Eigentumswohnungen und 6.000 Mietwohnungen wurden in den letzten zehn Jahren fertiggestellt. Ihre Kaufpreise, so ist leicht zu erfahren, liegen zwischen 800.000 und 1,2Millionen DM. Das sei billig, meint der Volksmund in Tama. Ähnliche Wohnungen in anderen Vorstädten, deren Preise nicht von einer einzigen Gesellschaft kontrolliert werden, liegen tatsächlich um ein Vielfaches höher. In Tama werden seit Anfang der 80er Jahre fast ausschließlich Eigentumswohnungen gebaut, deren Größe zwischen 80 und 120 Quadtratmetern liegt. Das sind für japanische Umstände großzügige Wohnverhältnisse. Ist eine neue Wohnung fertiggestellt, wird sie von der Wohnungbaugesellschaft Jutaku-Kodan unter den Bewerbern verlost. Für ein solches Losverfahren werden pro Wohnung bis zu 8.000 Bewerber gezählt.

Shigoru Yoshida, ebenfalls über 60 und ehemals Bürokrat in einem Regierungsministerium, bezeichnet Tama als „Modellsiedlung, wie es sie in Japan bisher nicht gegeben hat. Aber in Zukunft wird es viele davon geben.“ Das begründet er so: „Hier in Tama wohnen Menschen, die gut verdienen. Die Männer sind überwiegend Angestellte aus den großen Tokioter Büros. Es handelt sich um die gehobene japanische Mittelschicht, die ihren Wohlstand endlich voll auskosten will.“ In Tama darf es an nichts fehlen - und dafür ist gesorgt.

Kaufhaus Sogo

An der großen Allee zwischen Bahnhof und Triumphbogen überragt ein Gebäude alle anderen - das Kaufhaus Sogo. Die freundliche Cafe-Besitzerin am Bahnhof erinnert sich genau an den Tag, an dem das Kaufhaus seine Türen öffente, an den 20.Oktober vergangenen Jahres: „Seit Sogo da ist“, meint sie strahlend, „ist Leben in der Stadt.“ Was für ein Leben wohl gemeint ist? „Kaufen und Essen wie auf der Ginza“ lautet ein Sogo-Spruch, der in Tama über dem Kaufhaustor schwebt. Ginza steht für den feinsten Streifen in der Tokioter Innenstadt.

Und wirklich, Tama steht Ginza im Luxus um nichts nach. Das Sogo-Kaufhaus ist ein Palast. Ein marmorverkleideter Arkadengang führt an den Vitrinen entlang. An der Stirnseite des Gebäudes ragt ein Turm, ebenfalls mit Marmorfront, über die sieben Stockwerke des Hauptbaus hinaus. Drinnen flanieren die Kunden von einem riesigen Springbrunnen, über dem in fünf Metern Höhe ein Kronleuchter schwebt, der die Königin von England vor Neid erblassen ließe. Neben dem Springbrunnen wachsen Plastikbäume naturgroß in den Kaufhaushimmel, auf deren Zweigen sich ganze Vogelscharen niedergelassen haben. Wenn eine Uhr die volle Stunde schlägt, heben sie plötzlich zu fröhlichem Zwitschergesang an, der in Stereo den ganzen Palast erfüllt. Begeistert rennen kleine Kinder und ihre Mütter in die Halle, haben wohl auch schon auf das Ereignis gewartet.

Der König von Sogo

„Mein Kaufhaus“, sagt Sogo-Chef Yasuyoshi Sasaki trocken, „soll ein urbaner Treffpunkt aller Tama-Bewohner sein.“ In der achten Etage sind die Restaurants zur Mittagszeit tatsächlich überfüllt. Auffällig ist, daß fast ausschließlich Frauen zu den Gästen zählen. Französisches Feinschmecker-Menü, herrlich zubereiteter roher Fisch, Steaksorten aller Art, japanische Traditionsgerichte - alles ist hier zum Durchschnittspreis von 50,- DM pro Gedeck zu haben. „Die Restaurants sind heute schon voll, weil es eben gute Restaurants sind“, meint Yasuyoshi Sasaki.

Welch sonderbarer Kaufhauskönig! Yasuyoshi Sasaki residiert nicht etwa in der feinsten Loge seines üppigen Palastes, sondern in einer Baubarracke neben dem Kundenparkplatz. „Unser Haus wurde ja erst im Oktober eröffnet. Wir finden später anderswo Platz“, entschuldigt sich der Kaufherr. Das ist typisches japanisches Understatement. Je mehr Geld verdient wird, desto bescheidener die Manager. Yasuyoshi Sasaki, 62, hat sich in langen Jahren bei Sogo hochgedient. Ihm fehlt so völlig der vornehme Kaufhaus-Flair. Mit seinen breiten Zahnlücken, der zittrigen Hand mit den gelben Nikotinfingern und dem billigen Nylon-Anzug könnte er auch Kassierer in einer Automatenhalle sein.

Yasuyoshi Sasaki hat klare Vorstellungen: „Es geht in Tama kräftig voran. Zwei neue Unis werden gebaut, und eine weitere Zugverbindung, übrigens eine Magnetbahn. Unser Abkommen mit der Walt-Disney-Cooperation wird weiterhin bewirken, daß im nächsten Herbst ein kleines Disneyland in Tama eröffnet wird.“ Herr Sasaki erwähnt das selbstverständlich nur beiläufig. „Wir sind dabei, und das ist unsere Politik, alle Unterschiede im Angebotsgefälle zum Stadtzentrum von Tokio zu überwinden. Wie wichtig das ist, geht aus unseren Umfragen hervor. Über 60 Prozent der Bürger von Tama haben Wohnerfahrung im Zentrum. Sie sind Gutes gewöhnt und wollen hier das vorfinden, was es sonst nur in der City gibt.“

„Eine neue Basis für

Mensch und Kultur...“

Die Eröffnungsbroschüre für sein Kaufhaus in Tama ließ Yasuyoshi Sasaki mit den Worten überschreiben: „Eine neue High-Society von Tokio ist geboren. Im Grün der neuen Ginza entstand mit Tama-Sogo eine neue Basis für Mensch und Kultur.“

Zunächst einmal schwimmen „Mensch und Kultur“ in Tama offensichtlich im Geld. Zwischen Triumphbogen und Sogo -Palast liegt der neue Reichtum Japans, der im Zentrumsgedränge und im Häusermeer rings um die Innenstadt von Tokio untergeht, plötzlich offen auf der Straße. Und noch etwas fällt in Tama auf: Im Mittelpunkt der neuen Gesellschaft, die Sogo preist, steht offenbar „die Frau“. Darin sind sich die Protagonisten zumindest einig: „Unser erster Kunde ist die Frau“, meint Kaufhauschef Sasaki. „Männer haben gar keine Zeit zum Konsum von Luxusgütern.“ Bürgermeister Usui ergänzt: „Im Kulturzentrum begegne ich immer nur Frauen. Die Männer arbeiten eben in der Stadt.“ Und Siedlungsplaner Yoshida weiß: „Die Frauen sind es, die nach Tama ziehen wollen. Hier können sie ihre freie Zeit als Hausfrau nutzen.“ So planen die Herren ihre neue Welt - von oben. Erscheint Tama von unten im gleichen Licht? Wer sind die Bewohner von Nippons Modellstadt?

„Alle führen das gleiche Leben...“

Hinter dem Triumphbogen von Tama liegt ein übppiger Park, so groß, wie ihn ganz Tokio nicht hat. Dann schließen sich die ersten Siedlungen an. Hier wohnt die Hausfrau und Klavierlehrerin Chie Ishihara, 40, mit ihren drei Kindern im Alter von 14, 11 und 9 Jahren. Ihr Mann ist Angestellter bei einer angesehenen Firma in Tokio, verläßt morgens gegen sieben Uhr das Haus und kommt abends nicht vor zehn Uhr nach Hause, da die Kollegen nach der Arbeit meist noch ein Glas heben oder Überstunden anfallen. Chie Ishihara, eine modern gekleidete, jugendlich wirkende Frau, die nach der Schule ein vierjähriges Musikstudium an der Universität mit Erfolg absolvierte, räumt gerne ein, daß sie ihr Leben - in Abwesenheit ihres Mannes - selbständig gestalten muß. „Deswegen habe ich vor zwei Jahren über unseren Umzug nach Tama entschieden“, erklärt Frau Ishihara. Sie verweist auf den von der Wohnungsbaugesellschaft auf den Namen „Hobby -Craft-House“ getauften Anbau, wo sie täglich ihren Klavierunterricht erteilt. Diese neue Bauweise findet sie besonders praktisch.

Frage an Frau Ishihara, ob sie sich für eine typische Bewohnerin der Stadt Tama hält: „Mir fällt vor allem auf, daß offenbar alle das gleiche Leben führen. Meine Kinder erzählen mir, daß in ihrer Klasse nur Kinder von Angestellten sind. Früher war doch immer auch das Kind des Gemüsehändlers oder eines Arbeiters dabei. Damit sind die Erfahrungen für Kinder natürlich sehr begrenzt. In dieser neuen Umgebung bleiben sie ja selbst beim Spielen immer sauber und werden nie dreckig.“ Frau Ishihara betrachtet ihre Umwelt durchaus mit kritischen Augen: „Angenehm ist, daß in der Siedlung keine Autos fahren dürfen, und es so viel Grün in der Stadt gibt. Allerdings fehlen mir die Kontakte in der Nachbarschaft. Hier lernt man sich eigentich nur über die Kinder kennen.“ Frau Ishihara meint, daß Frauen wie sie in Tama die Wahl hätten zwischen einem Leben in Luxus und Bequemlichkeit und dem Engagement für soziale und gesellschaftliche Belange. „Deswegen treffe ich mich einmal in der Woche mit einer Frauengruppe im Laden von Frau Endo. Dort gibt es immer interessante Diskussionen.“

Politik im „Traumhaus“

Kazue Endo, 52, studierte Handarbeitslehrerin, führt ein Nähgeschäft im Osten der Stadt, inmitten einer Wohnsiedlung, wie sie für Tama gewöhnlicher nicht sein könnte: dreistöckige Apartmenthäuser, viele Garagen für teure Wagen und perfekt angelegte Grünflächen prägen das Ortsbild. „In unserer Siedlung wohnen eigentlich nur Frauen mit ihren Kinder. Die Männer sind ja mindestens 14 Stunden am Tag in der Stadt“, stellt Frau Endo fest. „Meine Kundinnen sind selbstverständlich alle Hausfrauen.“ Für sie bietet Kazue Endo - vom Seidengarn mit zum Mohairpullover - alle möglichen Handarbeitswaren an und verspricht zudem fachkundige Beratung. Und was noch? „Traumhaus“ hat sie ihren Laden genannt, auf den ersten Blick eine biedere Hausfrauenidylle - doch Kazue Endo, die gepflegte Frau mittleren Alters, hat noch etwas mehr zu bieten.

Mariko Mitsui klopft auf den Tisch. Die jung-dynamische Profi-Politikerin im engen Baumwollkleid, eingangs schon zitiert'ist bei Kazue Endo nicht das erste Mal zu Gast. Eben noch stand Mariko Mitsui, 41, vierhundert Frauen und einer Handvoll Männern im Kulturzentrum von Tama Rede und Antwort

-als eine von siebzehn Frauen im 130köpfigen Stadtparlament von Tokio. Nach viel Publikumsbeifall kann sich Mariko Mitsui nun bei Frau Endo ausruhen.

Die beiden Frauen kennen sich gut. Vor mehr als zehn Jahren gründeten sie gemeinsam in Tama einen kleinen Gesprächskreis für Frauen. „In Tama gibt es viele unabhängige, selbstbewußte Frauen. Es ist immer wieder schön, hierher zu kommen“, freut sich Frau Mitsui. Als sie Tama vor einiger Zeit verließ, engagierte sie sich zunächst in der radikalen Frauenbewegung in Tokio, lernte dort - über Umwege - die Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Takako Doi, kennen, und die holte sie in die Politik.

Kein Wunder also, wenn Kazue Endo stolz auf ihre alte Freundin ist. „Mariko hat es geschafft, daß heute mehr Mädchen auf die Oberschule gehen dürfen“, lobt sie die Abgeordnete. Die hatte erst vor wenigen Wochen in einem Antrag auf Veränderung der Quotierungsregeln für Jungen und Mädchen an Tokios Oberschulen Erfolg. Doch Mariko Mitsui winkt ab: „Ohne eure moralische Unterstützung hier in Tama hätte ich das nicht geschafft. Ihr habt doch praktisch die Unterschriftenkampagne für mehr Mädchen an den Oberschulen organisiert. Ihr seid ja eben Hausfrauen hier und habt Zeit für die Politik.“ Mariko Mitsui grinst. Kazue Endo erhebt keinen Einspruch.

Treffpunkte für Hausfrauen, wie in Kazue Endos Hinterzimmer, gibt es in Tama einige. „Jeden Monat lasse ich ein Werbeblatt drucken, auf dem sowohl meine Warenangebote wie die Gruppentreffen vermerkt sind“, erklärt Frau Endo. „Es gibt politische Gruppen, etwa zur Unterstützung einer unabhängigen Abgeordneten im Stadtrat von Tama, es gibt Gesprächskreise zu Themen, die Frauen interessieren, zum Beispiel zur gesunden Ernährung, und dann gebe ich natürlich weiterhin Handarbeitsunterricht.“ Das alles klingt bei der zurückhaltenden Stimme von Frau Endo so nebensächlich, als sei es kaum der Erörterung wert.

Selbstverwalteter Wohlstand

Man muß den Frauen von Tama erst nachspüren, um ihre verborgenen Aktivitäten zu entdecken: Jede Woche organisiert der „Seikatsu Club“ (zu deutsch: „Lebensverein“), die japanische Coop-Verbraucherbewegung in Tama, den sogenannten „Begegnungsmarkt“ unter der Eisenbahnbrücke des Keio -Express. Der läßt sich etwa wie ein kleines, selbstorganisiertes Fußgängerzonen-Fest an und ist in der ganzen Nachbarschaft beliebt. In Tama hat der Verein einen alten, buntbemalten Schulbus auf dem Marktplatz aufgestellt. Darin spielen nachmittags etliche Kinder und gönnen ihren Müttern eine kleine Verschnaufpause. Rundherum bieten Kooperativbetriebe das üblicherweise buntgemischte japanische Nahrungsmittelangebot feil: süße Kartoffeln, Rettich, Auberginen, allerlei Kohlgemüse - zudem aus biologischem Anbau. Das ist die Alternative zum Sogo -Kaufhaus.

Gleich am Marktplatz in Tama hat der Seikatsu Club auch eine Frauenbäckerei im Selbstverwaltungsbetrieb eröffnet, bei der nun täglich frische Vollkornbrötchen das Regal schmücken - eine Rarität in Japan. Noriko Matsubayashi bäckt an diesem Tag das Brot. Mit ihrer roten Schürze, weißem Hut und Hemd wirkt sie schon ganz profesionell. Ebenso ihre Seikatsu-Kollegin Emiko Ishiyama, die über das Marktgeschäft wacht. Sie überprüft die Obst- und Gemüselieferungen, teilt freiwillige Helferinnen zum Verkauf ein und kontrolliert die Einnahmen. Viel zu tun gibt es da allemal.

Noriko und Emiko, 39 bzw. 41 Jahre alt, sind beide Hausfrauen, verheiratet, mit zwei kleinen Kindern. Zweimal in der Woche arbeiten sie ganztägig entweder in der Bäckerei oder für den Marktbetrieb. Die Frauengruppe, die sich diese Arbeit teilt, nennt sich „Arbeitskollektiv“. „Mein Mann war erst dagegen, daß ich mich für den Seikatsu Club engagiere“, erzählt Emiko. „Er sagte, das würde der Familie schaden, und ich würde die Hausarbeit vernachlässigen. Aber ich habe darauf bestanden. Die Kinder wurden ja langsam selbständiger. Die Hausarbeit hatte ich auf ein Minimum rationalisiert. Irgendwann war es kar, daß ich meinem Leben einen anderen Sinn geben müßte. Es lohnt sich eben nicht, nur wie die Männer für den Profit zu leben.“

„Ein Triumph der Simulation?“

Ausgerechnet Noriko und Emiko, zwei Frauen voller Selbstbewußtsein, lieben ihre Stadt Tama. „Hier leben wir nicht im Großstadtdunst. Die Kinder haben ausgezeichnete Ausbildungsmöglichkeiten. Und unter uns Frauen gibt es viele, die studiert haben, selbständig sind und heute den Freiraum nutzen, den Tama bietet.“ So erklärt Noriko, daß bei den Kommunalwahlen im Sommer 1989 in Tama fünf Frauen in den 30köpfigen Stadtrat gewählt wurden. Die Abgeordnetinnen wollen gegen den Bau von Disneyland protestieren.

Erstaunliche Töne in Tama New Town. Wenn Japan tatsächlich das modernste Land aller Zeiten ist, dann muß irgendwo zwischen der High-Society im Sogo-Kaufhaus und dem Seikatsu -Club-Idealismus unser postindustrieller Alltag liegen. Am Abend, nach einem anstrengenden Tag in Tama, bleibt nur der Fuji-san klar am Horizont zurück. Vor ihm erstrahlt der Triumphbogen im grellen Scheinwerferlicht. „Und wenn die Realität sich unter unseren Augen auflösen würde? Nicht etwa im Nichts, sondern in etwas, das wirklicher als die Wirklichkeit ist (der Triumph der Simulation)? Und wenn uns das moderne Universum der Kommunikation nicht etwa in den Wahnsinn tauchen würde, sondern in eine ungeheure Befriedigung aller Sinne?“ Diese Fragen des Franzosen Jean Baudrillard, dem Spitzentheoretiker der Postmoderne, sind nach einem Tag in Tama vollkommen verständlich. Die Fahrt zurück nach Shinjuku ist wie der Weg zurück in ein profanes Chaos. Frau Ishihara, die Klavierlehrerin, meinte zum Abschied: „Tama macht auf mich immer einen so künstlichen Eindruck.“ Auf uns auch!

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen