: Wählen, um zu quälen?
Der neu zu wählende Vorstand der grünen Bundestagsfraktion steht vor der schwierigen Aufgabe, im Wahljahr Profil zu zeigen / Die Fraktion ist thematisch zerfasert, die Mandatsträger denken an die Zeit nach dem Abgeordnetendasein im Bundestag oder profilieren sich zu Hause ■ Aus Bonn Gerd Nowakowski
Diese grüne Fraktion betreibt „Kannibalismus“, sagt die Sprecherin des Fraktionsvorstandes Antje Vollmer. In ihrem Wort schwingt nicht nur eine Bilanz mit. Es deutet auch an, welche Spuren ein Jahr in dieser Funktion hinterlassen haben. Antje Vollmer reibt sich insbesondere am „antiautoritären Gestus“ der 43 grünen Fraktionäre, die sich ihre Vorstände nur wählten, „um sie zu quälen“. Vor der heutigen Neuwahl des Vorstandes läßt sich aber auch keinen Zweifel daran, daß es vor allem strukturelle Defizite sind, die die Arbeit im Führungsgremium erschweren.
Strömungsauseinandersetzungen waren es nur zu einem geringeren Teil, die im vergangenen Jahr die Arbeit der Parlamentarier belastete. Diese haben - außer als beim RAF -Hungerstreik alte Fronten aufeinanderprallten - eine nachrangige Bedeutung bekommen. Zu Beginn des Wahljahres, in dem einem Fraktionsvorstand eine besondere Bedeutung bei der Außendarstellung grüner Politik zukommt, steht vielmehr die Arbeitsorganisation im Mittelpunkt der internen Kritik. Nach dem Einzug der Grünen in den Bundestag im Jahre 1983 waren die Abgeordneten an feste Arbeitskreise angebunden, die die Kontinuität der politischen Arbeit garantieren sollten. Seit 1987 haben die Abgeordneten größeren Spielraum und eigene Mitarbeiter. Das aber hat nicht zur erwarteten Verbesserung der Arbeit geführt.
Die Fraktion ist statt dessen thematisch zerfasert, weil jede und jeder Abgeordnete macht, was er oder sie will - oft am Vorstand vorbei und manchmal auch gegen ihn.
„Falsches Arbeitsmodell“, wertet nicht nur Helmut Lippelt, der nach zwei Jahren aus dem dreiköpfigen Fraktionsvorstand ausscheiden muß. Nicht das Modell sei falsch, halten andere dagegen, den Grünen fehlten lediglich die Persönlichkeiten, um dieses auszufüllen. „Bei dieser Struktur wäre ein Mehr an persönlicher Reife nötig, als wir faktisch haben“, sagt Pressesprecher Franz Stänner.
Die Auflösungserscheinungen am Ende der Wahlperiode machen der Fraktion daneben zu schaffen. „Die Fraktion ist früher zerfallen als erwartet“, klagt Helmut Lippelt, der hinter den Kulissen viel zur stillen Konfliktbereinigung beigetragen hat. Manche, die die Hoffnung auf eine Wiederwahl aufgegeben haben oder an der Rotation gescheitert sind, interessieren sich bereits jetzt mehr für das Leben nach der Abgeordnetenzeit als für die Bonner Aufgaben; wer noch einmal nominiert werden will, kümmert sich um die Heimatbasis.
Sichtbar werden die Schwächen an einer Stelle, die eigentlich eine große Stärke der Partei ist: in den wöchentlichen Fraktionssitzungen. Im Gegensatz zu allen anderen Parteien sind die Sitzungen öffentlich. Was Ausdruck eines anderen Politikstils sein soll, wird oft genug zur besonderen Belastung. Der stundenlange, mühsame Findungsprozeß zwischen widerstrebenden Meinungen teilt sich der Öffentlichkeit ungefiltert mit und trägt ein gut Teil zum Bild einer politikunfähigen Fraktion bei. Registriert und entsprechend negativ bewertet wird auch die magere Besetzung. Selten ist mehr als ein Drittel der Fraktion anwesend, mehrere Fraktionssitzungen der letzten Monate waren mangels Masse sogar beschlußunfähig. Die „Zufälligkeit der Zusammensetzung der Anwesenden“ (Antje Vollmer) führt darüber hinaus zu Zufallsmehrheiten, die weitere mühsame Abstimmungen und Korrekturen notwendig machen.
Die „Eigenbrödlerei“ (Helmut Lippelt) der Abgeordneten zu überwinden und die Kräfte und Themen zu bündeln fällt dem Vorstand als undankbare Aufgabe zu. Gelungen ist ihm eine Profilierung nur selten. Die Kräfte reichten oft gerade für die fraktionsinterne Koordination der auseinanderstrebenden Teile, aber nicht mehr für die effektive Außendarstellung der gefundenen Positionen, gibt Helmut Lippelt zu. Der Vorstand sei das „einzig existierende Gemeinsame“, sagt Antje Vollmer, die bereits im vergangenen Sommer vergeblich das Fehlen von „Agenten des Gemeinsamen“ innerhalb der Fraktion beklagte. Die Gründerin des „Grünen Aufbruchs“ vor einem Jahr als zwischen den Strömungen stehend angetreten - ist seitdem zur beherrschenden Figur des Fraktionsvorstands geworden. Ihre Rolle als Schiedsrichterin hat sie freilich dabei eingebüßt und dafür - insbesondere von der Parteilinken - viele persönliche Angriffe auf sich gezogen.
Vom linken Flügel wird die Situationsbeschreibung der Fraktion geteilt, aber andere Schlüsse gezogen. Der Vorstand „nutze“ die Atomisierung aus, um seine Politik zu machen, sagt die Berliner Ökosozialistin Siggi Fries. Sie macht dem Vorstand den Vorwurf, er sei „unfähig“, Debatten zu organisieren - er verwalte lediglich. In der Fraktion haben die Linken an Gewicht verloren; insbesondere die den Ökosozialisten Nahestehenden sind mit der Frage beschäftigt, welche Rolle sie überhaupt noch in der Partei spielen wollen.
Vor eim Jahr holte sich Otto Schily bei seiner Kandidatur für den Fraktionsvorstand durch die gemeimsame Ablehnung vom linken Flügel und „Aufbruch“ seine letzte - und wie manche sagen, für seinen SPD-Übertritt entscheidende - Niederlage. Für die heutige Vorstandswahl werden als Kandidatinnen neben einer noch zögernden Antje Vollmer die niedersächsische Realo-Vertreterin Waltraud Schoppe und der ehemalige Daimler -Benz-Arbeiter Willi Hoss genannt. Ob die Fraktionsvorständlerin Jutta Oesterle-Schwerin, die im letzten Jahr von den Linken nominiert wurde, noch einmal antreten wird, ist ebenfalls offen.
Antje Vollmer hat für eine weitere Mitarbeit im Vorstand einige Stichworte vorgegeben: Sie spricht von notwendiger „Straffung der Fraktionsdebatte“ und „Kompetenzdelegation“. Ob es dafür Mehrheiten gibt, muß die Fraktionsklausur am kommenden Montag zeigen. Spötter haben bereits geulkt, für das Profil wäre es am besten, man schicke die Abgeordneten ganz nach Hause und überlasse die Arbeit dem Vorstand.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen