: Kein Wehrdienst in Ost und West
Totalverweigerer aus beiden deutschen Staaten forderten auf ihrer ersten gemeinsamen Pressekonferenz die totale Abschaffung der totalen Wehrpflicht / Untergetauchter Wehrdienstverweigerer schlich, als Kameramann getarnt, durch die Grenze ■ Aus Ost-Berlin H.-H. Kotte
Die Teilnehmer der ersten deutsch-deutschen Pressekonferenz zum Thema Totalverweigerung mußten auf den Boden des Warschauers Pakts flüchten. Einer der West-Totalverweigerer, der Berliner Gerhard Scherer, wird nämlich im Westteil der Stadt per Haftbefehl gesucht und soll nach dem Willen des rot-grünen Senats in den BRD-Knast ausgeflogen werden. Dort soll er eine fünfmonatige Haftstrafe wegen „Dienstflucht“ antreten, dort droht auch die zweite Einberufung und die damit einhergehende Doppelbestrafung. So mußte der untergetauchte Scherer, als Kameramann eines Fernsehteams getarnt, durch die Grenzanlagen nach Ost-Berlin kommen.
Auf der Pressekonferenz in der schon historischen „Umweltbibliothek“ der Zionsgemeinde standen zwei Punkte im Vordergrund. Die totalen Wehrdienstverweigerer (West) empörten sich über die Aushöhlung des entmilitarisierten Status West-Berlins durch den AL-SPD-Senat, der nach Jahren der „Ruhe“ Totalverweigerer künftig per Amtshilfe wieder an westdeutsche Behörden ausliefern will - und sich Anfang Januar dazu über eine Anfrage an die Alliierten deren Plazet sicherte.
Die Totalverweigerer (Ost) befürchten, daß durch das geplante Zivildienstgesetz für die DDR die Kriminalisierung und Inhaftierung von Totalverweigerern weitergehen wird. Sie wollen, weil das Zivildienstgesetz bereits die erste Lesung in der Volkskammer hinter sich hat, die Themen ziviler Ersatzdienst und Totalverweigerung kommenden Montag am runden Tisch diskutieren.
Neben Scherer nahmen an dem Termin auch der Ost -Totalverweigerer Michael Frenzel, die Bundestagsabgeordnete der Grünen und Mitglied des Verteidigungsausschusses Gertrud Schilling und die Berliner AL-Abgeordnete Renate Künast teil. Beide forderten den rot-grünen Senat auf, Scherer nicht auszuliefern. Der Senat solle sich nicht „hinter dem breiten Rücken der Alliierten“ und dem Argument der Rechtseinheit mit dem Bund verstecken. Schilling sprach von „purer Feigheit der SPD“. Berlin könne in diesem Fall durchaus einen kleinen Anfang der Abrüstung machen. Die AL -Abgeordnete Künast wies ebenfalls darauf hin, daß die Sache politisch entschieden werden müsse und nicht im „engen Rahmen alliierter Anweisungen“.
Die auch der AL noch nicht zugänglich gemachte Senatsanfrage an die Alliierten habe nicht mehr ergeben, als daß die Schutzmächte sich durch eine Abschiebung von totalen Verweigerern nicht in ihrer Souveränität beeinträchtigt fühlten. Die Verantwortung liege also weiter beim Senat, sagte Künast und kündigte Initiativen ihrer Partei in Senat und Abgeordnetenhaus an.
Michael Frenzel vom DDR-„Freundeskreis Wehrdienst -Totalverweigerung“, der selbst anderthalb Jahre inhaftiert war, bezifferte die Anzahl von Totalverweigerern in der DDR auf „mehrere hundert“ (BRD: 500).
Frenzel sagte, daß die Einführung eines Zivildienstgesetzes verhindert werden müsse. Bisher gab es nur den „Bausoldaten“, der nicht mehr war als ein Soldat mit Spaten statt Gewehr. Zwar seien seit 1985 keine Totalverweigerer mehr verurteilt und inhaftiert worden, aber im Entwurf des Zivildienstgesetzes sei dafür wieder von bis zu zwei Jahren Haft die Rede.
Ost- und West-Totalverweigerer sagten, daß ihr eigentliches Ziel die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht sei. Bei der jetzigen Weltlage sei die Chance hierfür so gut wie nie: „Wann, wenn nicht jetzt?“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen