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„Ich will alles, und zwar sofort“

■ Ostberliner Handwerker protestieren vor dem Roten Rathaus: Schluß mit Bevormundung / Verfehlte Wirtschaftspolitik: Kaum ein Bereich kann bedarfsorientiert arbeiten / Die Lohnfrage ist seit vielen Jahren umstritten / Bis Ende April soll neues Handwerksgesetz vorliegen

„Ich will alles, und zwar sofort. Ich will nie mehr zu früh zufrieden sein.“ Als sich am Mittwoch nachmittag Ostberliner Handwerker vor dem Roten Rathaus zu ihrer Protestdemonstration sammelten, lief dieser Schlager von Gitte Haenning zwar nur zufällig über die Lautsprecher. Aber die Textzeile drückte ungewollt das Anliegen der zu Tausenden erschienenen privaten Gewerbetreibenden aus: sofort Schluß machen mit Bevormundung und Reglementierung, endlich wahre Gewerbefreiheit und leistungsstimulierende Steuern.

Wie berechtigt diese Forderungen und die Ungeduld der Kleinunternehmer sind, macht ein Blick auf die gegenwärtige Situation des privaten Handwerks deutlich. Eine verfehlte Wirtschaftspolitik der SED hat im Dienstleistungssektor so große Lücken aufgerissen, daß kaum ein Bereich bedarfsdeckend arbeiten kann. Buchbinder und Druckereien, Goldschmiede und Polsterer - um nur einige Beispiele zu nennen - nehmen nur an einer Handvoll Tage im Jahr Aufträge entgegen, weil weder ihre Kapazitäten den Markterfordernissen entsprechen noch die veraltete technische Ausrüstung eine hohe Produktivität zuläßt. Vom ohnehin zu knappen Ersatzteilmarkt dürfen die staatlichen Handwerksbetriebe den Löwenanteil in Anspruch nehmen, der Rest wird unter genossenschaftlichen und privaten Unternehmen aufgeteilt.

Auch eine Produktivitätsbremse - die hohen Steuern. Spitzensätze bis zu 93 Prozent führen mitunter zu völlig aberwitzigen Praktiken: In einigen Branchen ist es so weit gekommen, daß Betriebe schon im November ihren Jahresabschluß feiern, denn nur für das Finanzamt will doch keiner so recht arbeiten. Und dazu kommt auch noch dies: Seit Jahrzehnten festgeschriebene Preise freuen zwar die Bürger, sind aber meistens von der realen Kostenentwicklung der letzten Jahre längst überholt. Die Folge sind dahinvegetierende Zuschußbetriebe und ein Überhang an Abmeldungen gegenüber den Anmeldungen im gesamten Handwerksgewerbe.

Ebenfalls seit vielen Jahren umstritten ist die Lohnfrage, denn für Angestellte von volkseigenen und privaten Unternehmen existieren unterschiedliche Tarifsätze. So waren und sind die privaten Handwerksmeister auf dunkle Tricks angewiesen, um ihre Angestellten zu halten und ein Abwandern in die offiziell doppelt so hoch entlöhnende volkseigene Konkurrenz zu unterbinden. Ist man gar durch engere Familienbande an den Werkstattinhaber gebunden, gilt man als mithelfendes Familienmitglied, für das der Meister eine jährliche Pauschale von 2.000 Mark (seit kurzem 4.000 Mark)

-das entspricht einem Stundenlohn von 89 Pfennig (jetzt 1,79 Mark) - von der Steuer absetzen kann.

Dennoch gilt auch im anderen Teil Deutschlands das Wort vom goldenen Boden des Handwerks, wozu bei dem einen oder anderen Betrieb allerdings auch der doppelte Boden gehört. Die Hauptleidtragenden des zwar äußerlich durch „Förderungsgesetze“ stimulierten, aber in der Realität gebremsten Handwerkerfleißes sind aber die Bürger, die tagtäglich mit den Lücken und Tücken eines unterentwickelten Dienstleistungssystems zu kämpfen haben.

Die Chance, daß die am Mittwoch von den Handwerkern geäußerten Forderungen nicht wieder ungehört verhallen, ist diesmal groß. Wirtschaftsministerin Luft hat ja wiederholt angekündigt, der privaten Initiative - nicht zuletzt auf Drängen der das große Geschäft witternden BRD-Industrie - in der DDR Türen und Tore zu öffnen. Bis Ende April soll der Volkskammer nun ein Handwerkergesetz vorgelegt werden, ein neues Steuergesetz ist ebenfalls für dieses Jahr anvisiert. Letzteres wird voraussichtlich einen Spitzensteuersatz von 60 Prozent und ein einheitliches Tarifsystem für Angestellte von Handwerksbetrieben aller Eigentumsformen festschreiben.

Die Ungeduld der Handwerker bleibt weiterhin groß. Sie wissen, daß der revolutionäre Umbruch in der DDR auch in ihrem Bereich alte verkrustete Strukturen hinwegespült hat und ihnen eine goldene Zukunft verheißt. Der Unterstützung durch das Volk können sie sich gewiß sein, ist doch die Notwendigkeit privater Initiative für ein funktionierendes Dienstleistungssystem in weiten Teilen der Bevölkerung unbestritten. Von vielen noch verdrängt wird aber dabei der Gedanke, daß sie für diese Initiativen schon in nächster Zukunft einiges draufzahlen müssen.

Peter Berger

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