: Das große W Wohlstandsm marathon
■ Die dicksten Kartoffeln und die fettesten Würste, aus deutschen und aus fernen Landen mehr oder weniger frisch auf den Messetisch, werden ab heute wieder der staunenden Öffentlichkeit präsentiert. Wer sich der Massenmenschhaltung nicht entziehen kann, sollte sich zunächst den kleinen Reiseführer durch die Grüne Woche durchlesen.
EBERHARD SEIDEL-PIELEN sagt, wo es langgeht.
nsere Aufgabe ist es, nach all dem Leid, das unsere Berufskollegen durch die brutale Enteignung des land- und forstwirtschaftlichen Privatbesitzes erdulden mußten, in ihren Herzen die Hoffnung auf Befreiung nicht verglimmen zu lassen und ihnen die Gewißheit mitzugeben, daß die westliche Welt nicht nachlassen wird in ihrem Bestreben, auch ihnen wieder die menschlichen Grundrechte zu verschaffen. Diese Ausstellung soll ihnen aber auch das Bewußtsein geben, daß eine Zugehörigkeit zur freien Welt neben den ideellen auch größere materielle Vorteile umschließt, die ihnen der Kommunismus niemals zu bieten vermag.“
Damals, am 27.Januar 1961, war die Grüne Woche in Berlin mehr als nur eine landwirtschaftliche Leistungsschau. Bundesernährungsminister Schwarz brachte den tieferen Sinn der Messe in seiner Eröffnungsrede zum Ausdruck. Es ging um den Überlebenswillen der freien Welt. West-Berlin, das Schaufenster des Westens, war noch echte Frontstadt.
„Wenn die freie Welt den Vormarsch des Kommunismus aufhalten will ... dann muß sie den Kommunismus auf jedem Wirtschaftsgebiet entscheidend schlagen, auch auf dem Gebiet der Landwirtschaft.“ 29 Jahre später ist es vollbracht und das kommunistische Bollwerk DDR geschleift. Nun können sich mecklenburgische Brigadisten und unterfränkische Winzer erstmals wieder brüderlich in die Arme fallen und bei einem Schoppen Wein das neue Zeitalter feiern.
ereits vor der Eröffnung der 55. Internationalen Grünen Woche steht fest: Es wird eine Messe der Superlative. Mehr als 600.000 Menschen werden sich schwitzend, keuchend und fluchend durch die Messehallen rund um den Berliner Funkturm schieben. Die brandenburgischen und sächsischen Bauern machen es möglich. Landwirtschaftliche Betriebsgenossenschaften aus der ganzen DDR haben sich nahezu geschlossen angemeldet. 60 Prozent der vorverkauften Karten gingen an sie.
Für die seit Jahrzehnten auf Blumenkohl, Erbsen, Möhren und Kartoffeln konditionierten DDR-Bürger beginnt auf der Grünen Woche eine Begegnung der Dritten Art. Brachen viele von ihnen nach dem 9.November beim Eintritt in die glitzernde, funkelnde Welt des KaDeWe in sich zusammen, ist in den stickigen Messehallen ein Massenkollaps zu befürchten. Menschen, für die Bananen und Kaffebohnen bislang das Nonplusultra internationaler Warenbeziehung bedeutete, werden sinnlich schmeckbar erfahren, was ihnen der Sozialismus vorenthielt. Ungeahnte Geschmackskontinente gilt es zu entdecken. Nach dieser Grünen Woche wird in der DDR nichts mehr so sein wie früher. Das Rot der heimischen Kirschen und der Geschmack der Äpfel verblassen für immer.
ber auch für den konsumerfahrenen Westler bietet die Grüne Woche ein erschlagendes Angebot. Wer nicht einfach von der Menschenmasse durch die Hallen gerissen wird und das Glück hat, einen Fuß auf den Messeboden zu bekommen, kann die Produkte der Ernährungs- und Landwirtschaft aus 58 Ländern bestaunen. Erstmals dabei sind in diesem Jahr Saudi-Arabien, Bolivien und Albanien, die mit den hartnäckigen Vorurteilen aufräumen möchten, in ihren Ländern gäbe es nur Öl, Kokain und Eselskarren.
Aber bleiben wir in Deutschland. Auf einer Sonderschau des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten werden auf einer „gestalteten deutschen Weinlandschaft umfassende Informationen zum Thema Wein geboten. Neben den wichtigen Rebsorten auf einem Weinberg wird in der Kellerwirtschaft die Verarbeitung der Trauben bis hin zum gebrauchsfertigen Wein demonstriert“, so das Versprechen der Veranstalter. Eine Sonderschau, die eine Mordsgaudi verspricht. Endlich wird der Öffentlichkeit vorgeführt, wie sich deutsche Winzer die biblische Fähigkeit aneigneten, Wasser in Wein zu verwandeln. Falls die Sonderschau hält, was sie verspricht, werden endlich die näheren Verbindungen zwischen Zuckerindustrie, chemischer Industrie und Weinanbau aufgeschlüsselt. Ob in der Kellerwirtschaft auch an lebendigen Beispielen demonstriert wird, wie es deutschen Winzern gelingt, mit dem gleichen finanziellen Input aus polnischen Erntehelfern das doppelte an Output herauszuholen wie aus deutschen Erntehelfern, war vor Ausstellungseröffnung nicht zu erfahren. Aber im Wein liegt bekanntlich die Wahrheit.
n der Sonderschau „Schweineproduktion“ wird dem interessierten Besucher der Werdegang der täglichen Schweinerei von der Wiege bis zur Bahre aufgetischt. Leider wird auch hier dem Publikum wieder einmal das Geheimnis eines guten Leberkäses vorenthalten. Deshalb sei an dieser Stelle das auf den bundesrepublikanischen Schlachthöfen kursierende Rezept verraten: Regelmäßig vor dem Ende eines langen, blutigen Arbeitstages erschallt der Ruf des Meisters an die Lehrlinge: „Wischt mal die Wurstküche zusammen, wir machen noch schnell den Leberkäs fertig.“ Die Performance „Erzeugung von Qualitätsfleisch“ wird während der Grünen Woche täglich um 12, 14.30 und 16.30 in der Halle 2 aufgeführt.
Viel Unterhaltung verspricht auch „Leben auf dem Lande“, eine weitere Sonderschau der Bundesländer. Bayern greift soziale, wirtschaftliche und kulturelle Aspekte aus dem Bereich der Nebenerwerbslandwirtschaft auf. Hier können sich, so Bayern es will, die Brigadisten aus Sachsen trösten. Nicht nur ihnen widerfuhr das bittere Los der Enteignung und Zwangskollektivierung. Auch in Bayern wurden Hunderttausende von Landwirten durch Flurbereinigung, „Grünen Plan“ und Preispolitik der EG ihrer Höfe entledigt und der industriellen Produktion zugeführt. Ein Besuch der Ausstellung könnte sich lohnen und Aufschlüsse darüber geben, weshalb sich die „Republikaner“ in Bayern gerade unter den Nebenerwerbslandwirten so großer Beliebtheit erfreuen.
aden-Württemberg präsentiert seine ländlichen Räume mit Blickrichtung auf das Leben der Familien und die Zukunft der Landwirtschaft. Beides ist, wie wir wissen, aufs engste miteinander verbunden. Und die Berliner können ein Lied davon singen, daß es um das Familienleben in Baden-Württemberg schlecht bestellt ist. Wer kennt sie nicht, die schwäbischen Bauerstöchter und Badenser Landwirtssöhne, die Hals über Kopf von der Scholle nach Kreuzberg flüchteten. Sie sind es, die autonome Zirkel und alternative Projekte mit schwäbischen und alemannischen Tugenden bereichern, wie: revolutionäre Disziplin und Gehorsam, ideologische Reinheit, Linientreue, Arbeitsbereitschaft und eine gesunde Portion Verbissenheit.
Rheinland-Pfalz, Hessen, Niedersachsen und das Saarland widmen sich in ihren Beiträgen zur Sonderschau „Leben auf dem Lande“ brisanteren Themen als ihre Kollegen aus dem Süden. Das Themenspektrum: Biotopentwicklung, Gewässernaturierung, Feuchtbiotope und Biotopvernetzung. Kein Problem wird ausgespart, und jeder Tag der Landschau wird mit einem Schwerpunktmotto belegt. Neben dem Tag des Waldes und einem Tag der Ökologie gibt es weitere Tage, die die Probleme im Zusammenleben der Generationen behandeln, das Pendeln zur Arbeitsstätte und, und, und. „Leben auf dem Lande“, eine sehenswerte Veranstaltung, die dem Großstädter eindringlich vor Augen führt, daß es neben seinen eigenen vielbeachteten Problemen dramatische Entwicklungen in der ländlichen „Idylle“ gibt.
uch in diesem Jahr ist die Grüne Woche mitnichten eine Messe, auf der nur das größere, schnellere, gewichtigere und voluminösere der landwirtschaftlichen Produktion Beachtung finden soll.
Auf dem „Markt der Meinungen“ setzen sich mehr als 20 Institutionen aus den Bereichen Umwelt- und Naturschutz, ökologische Landwirtschaft, Tierschutz, Entwicklungspolitik und Landschaftsplanung kritisch mit den Problemen auseinander. Das ist das Schöne an unserer Zeit, dieses Verschwinden der Berührungsängste, dieser Abbau verkrusteter ideologischer Grenzziehung, diese Möglichkeiten, jedes Problem unter allen denkbaren Aspekten zu betrachten. Also: Wer sich über Molkereiprodukte informieren möchte, kann dies auf dem „Markt der Meinungen“ unter ökologischen Gesichtspunkten tun. Wer etwas über Molkereiprodukte unter den real existierenden kapitalistischen Produktionsbedingungen erfahren möchte, kann dies bei dem Vortrag „Zuviel Masse statt Klasse. Die erfolgreiche Weiße Linie unter Ertragsdruck“ auf dem „2.Frische Forum -Molkereiprodukte“ tun.
Noch ein Geheimtip für taz-Leser: Auf dem „Markt der Meinungen“ finden Sie einen alten Bekannten wieder. Helmut Höge, in Ungnade gefallener taz-Kulturredakteur, informiert mit seinen Mitbrigadisten über die LPG Florian Geyer aus Saarmund (DDR). Die „LPG-Tierproduktion Florian Geyer“ ist neuer Arbeitgeber Helmut Höges und einiger seiner Freunde.
eit zehn Jahren findet zeitgleich zur „Grünen“ die „Giftgrüne Woche“ statt. Kleiner, bescheidener, aber mit Biß. Regelmäßig warten die Veranstalter im Ökodorf mit Schwerpunktthemen auf, die die Unerträglichkeit industrieller landwirtschaftlicher Raubbaumethoden anprangern und Wege aus dieser Krise zeigen. Titel der diesjährigen Giftgrünen Woche: „ReaGENzglas oder BIOacker“. In einer Ausstellung und begleitenden Veranstaltungen wird ein umwelt- und sozialverträglicher Landbau als Alternative zu dem zunehmenden Einsatz von Bio- und Gentechnologien für die Lebensmittelerzeugung vorgeschlagen.
Das Ökodorf finden Sie in der Kurfürstenstraße 14. Die Grüne Woche finden Sie, indem Sie sich einfach dem größten Menschenstrom anschließen. Der bringt Sie zur Messehalle oder zum Brandenburger Tor.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen