: „WIR FRAGEN KEINEN“
■ Interview mit dem Direktor des „Moskauer Jüdischen Dramatischen Theaters Shalom“, Alexander Lewenbug
taz: Wie kam Moskau nach 40 Jahren wieder zu einem jüdischen Theater?
Alexander Lewenbug: 1962 erklärten fünf jüdische Schauspieler innerhalb der Moskauer Organisation für Unterhaltungskünstler, daß sie ihre kulturelle Tradition nicht aussterben lassen wollten. Sie bekamen später noch Verstärkung durch junge russische Schauspieler, und so entstand das „jüdische dramatische Ensemble“. Diese Gastspielgruppe tingelte mit Szenen aus den alten Stücken, mit jiddischen Liedern und Tänzen unter unendlichen Schwierigkeiten für Hungerlöhne durch das Land. In den großen Städten wollte man sie oft gar nicht empfangen, und eine richtige Resonanz gab es fast nur in abgelegenen ukrainischen Marktflecken. So entwickelte sich unsere Gruppe, die vor zwei Jahren die Erlaubnis bekam, sich „Jüdisches Dramatisches Theater Shalom“ zu nennen und endlich ein eigenes Haus bezog. Seither bin ich künstlerischer Leiter, und wir haben begonnen, mit zeitgenössischen Autoren neue Stücke zu erarbeiten.
Wie autonom ist denn das „Jüdische Dramatische Theater“?
Vor allem in den englischsprachigen Ländern begegnet man uns mit einer gewissen Vorsicht. Man hält es dort für einen Propagandatrick des sowjetischen Staates, daß er sich ein jüdisches Theater leistet. Dabei sind wir ein reales Produkt der Perestroika. Wir sind auch finanziell völlig selbständig und arbeiten rein nach dem Gewinnprinzip. Natürlich macht es sich schick, wenn ein jüdisches Theater sich für unterdrückt ausgibt. Aber auf diese Ausrede müssen wir leider verzichten. Unser Repertoire entwickeln wir völlig frei, und dabei ist uns alles erlaubt, weil wir nämlich niemanden erst um Erlaubnis fragen.
Schließt nicht diese Wirtschaftsweise avantgardistische Experimente aus?
Ein Teil unseres Publikums wäre dafür vielleicht sogar ansprechbar. Aber es ist uns ein Anliegen, möglichst breite Kreise, auch unter Nichtjuden, zu erreichen. Ebensowenig wie Beethoven nur von Deutschen gehört wird, möchten wir nur für Juden spielen. Kürzlich sind unsere Aufführungen in der Stadt Kasan, wo es nur 6.000 Juden gibt, von 9.000 Zuschauern besucht worden. Im Jahr kommen in unser Haus eine Viertelmillion Leute. Den Juden im Publikum aber hilft gerade dieser Erfolg, sich endlich sagen zu können: „Ja, ich bin wirklich ein Jude“, und darauf auch stolz zu sein. Und dafür arbeiten wir.
Kann man von einer „jüdischen Welle“ im russischen Theater sprechen?
Sie rollt schon. Das gehört zur Aufarbeitung des jahrelang Verbotenen. Speziell jüdische Theater gibt es jetzt in Kiew, Vilnius, Riga und Leningrad. Zudem haben viele russische Theater jüdische Stücke in ihr Repertoire aufgenommen. Großes Aufsehen hat zum Beispiel in Moskau die Inszenierung des Stückes Erinnerungsgebet im Theater des Lenin -Komsomol erregt. Der Regisseur Mark Sacharow nennt so seine Umarbeitung von Tewje der Milchmann. Den Tewje spielt bei ihm der großartige Schauspieler Jewgenij Leonow bewußt als urrussischen Typen. Und kürzlich hat mich der Direktor des „Dramatischen Theaters“ der Stadt Kasan gebeten, ob ich ihm nicht „etwas Jüdisches“ inszenieren könnte.
In der UdSSR gibt es aber auch rassistische Organisationen. Sind Sie von denen behelligt worden?
Wir können uns über Beleidigungen nicht beklagen. Auch die Presse verwöhnt uns nicht gerade: Während eines ganzen Jahres ist in Moskau nur eine einzige Rezension einer Aufführung von uns erschienen. In London dagegen waren es in einer Woche 20. Dazu waren solche Zeitungen wie der 'Guardian‘ und die 'Times‘ sogar fähig, je drei Besprechungen zu bringen. Wenn man aber einmal vom Theater im engeren Sinne absieht, sind die Zeiten für Juden bei uns nicht gerade einfach. Nicht nur daß Organisationen wie die chauvinistische „Pamjat“ sich ganz ungezügelt geben. In keinem einzigen Fall sind bisher ihre Vertreter strafrechtlich verfolgt worden, wenn sie bei Demonstrationen verfassungswidrige Transparente mit sich führen, auf denen sie die Deportation aller Juden aus der Sowjetunion und das Verbot gemischtrassiger Ehen fordern. Weder der Schriftstellerverband noch die Partei haben bisher daran gedacht, Mitglieder auszuschließen, die sich, wie die Autoren Rasputin und Below, wiederholt und offen antisemitisch äußern. In den letzten beiden Jahren sind zahlreiche jüdische Theater, Kulturinstitutionen und Bibliotheken gegründet worden. Letztes Jahr konnten wir im Zentrum von Moskau unseren ersten gesamtsowjetischen Kongreß abhalten, auf dem sich 104 jüdische Gemeinden und Organisationen einen gemeinsamen ständigen Rat wählten. Und trotz dieses ungeheuren Aufschwungs empfinden viele Juden die Atmosphäre hier als unheimlich, ja es gibt sogar eine Pogromangst, die die Leute zur Emigration drängt.
Ihr Haus ist in Moskau zu einem Kulturzentrum geworden.
Wir verkaufen in den Pausen die neuen jüdischen Zeitschriften, die jetzt im Lande erscheinen, und halten Sprachkurse ab. Durch ihre Bindung an die heiligen Texte war die jüdische Kultur immer stark literarisch geprägt. Da die Thora aber in Hebräisch verfaßt ist, hielt diese Sprache die Kultur sozusagen zusammen. An unserem Theater lernen zur Zeit in bezahlten Kursen etwa 600 Menschen Hebräisch. Auch unsere Jiddisch-Kurse treffen auf immer stärkeres - aber bei weitem nicht vergleichbares - Interesse. Es gibt heute in der Sowjetunion ebensowenig wie in Deutschland ein jiddisches Publikum, von dem ein ganzes Theater leben könnte. Unsere Stücke inszenieren wir immer in zwei Versionen: einer rein jiddischen und einer russisch -jiddischen. Meistens führen wir die zweisprachige Variante auf, die reichere Möglichkeiten zu witzigen Wortspielereien bietet. So halten wir es auch hier in Berlin.
Interview: Barbara Kerneck
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