: Mit Taucherglocke ins Reaktorherz
■ Verheerende Zustände im AKW Greifswald: Mehrfach knapp am GAU vorbei / „Menschenmaterial verheizt“
Berlin (taz) - Nach neuen dramatischen Enthüllungen über Beinahekatastrophen im DDR-Atomkraftwerk Greifswald müssen die fünf Reaktoren möglicherweise noch „vor Abschluß der sicherheitstechnischen Bewertung vorsorglich stillgelegt werden“. Diese Ansicht vertrat am Wochenende der Bonner Reaktorminister Töpfer, der „alles tun“ will, um in dieser Richtung „Einfluß zu nehmen“.
Zuletzt standen die DDR und ganz Mitteleuropa am Abend des
24.November vergangenen Jahres am Rande einer Katastrophe.
An dem Tag, als in Ost-Berlin die SED auf ihre Führungsrolle verzichtete, hantierten die Betriebsmannschaften in
Greifswald verzweifelt am neuen, fünften Block. Mit dem
Ziel, das Notabschaltsystem zu überprüfen, wurden zunächst drei der sechs Hauzptumwälzpumpen planmäßig abgeschaltet.
Statt der erwarteten Schnellabschaltung des Reaktors legte sich jedoch eine vierte Pumpe selber still, der Reaktor
geriet außer Kontrolle. Als es der Betriebsmannschaft
schließlich gelang, den bereits erheblich überFortsetzung
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hitzten Reaktor von Hand abzuschalten, waren zehn von dreißig Brennelementen bereits stark angegriffen - eine lokale Kernschmelze.
Auslöser für die fehlgeschlagene Schnellabschaltung waren nach dem Bericht einer offiziellen Regierungskommission verklebte Kontakte eines Relais‘, das ähnlich schlampig zusammengebastelt war wie die gesamte übrige Technik der sowjetischen Reaktoren.
Der Zwischenfall vom 24.November war der letzte in einer Reihe von schweren und schwersten Unfällen, die der 'Spiegel‘ jetzt enthüllte: 1974 geriet der Reaktor außer
Kontrolle, die Temperaturen stiegen. Nach der Notabschaltung und dem Öffnen des Reaktordeckels „bot sich ein Bild der Verwüstung: Etliche Brennelemente waren geborsten, die Zirkon-Ummantelung einzelner Brennstäbe geplatzt, der Uranbrennstoff war teilweise zusammengebacken, verklumpt oder verstreut“.
Ebenfalls 1974 mußte ein Feuerwehrsprungtuch aufgespannt
werden, um den Absturz der Steuerstäbe in den vollbeladenen Reaktorkern zu verhindern.
Mitte der 70er Jahre gingen alle Hauptumwälzpumpen zu
Bruch: Kraftwerker hatten bei Wartungsarbeiten sechs kleine Stahldeckel „vergessen“.
1981 gelangte de-ionisiertes H20 ohne die
neutronenbremsenden
Wasserbestandteile in den Reaktor. Der Spaltungsprozeß beschleunigte sich, die Temperaturen stiegen unkontrolliert. Erst eine Notabschaltung und die Zufuhr von Bor -Neutronenbremsern stoppten die Überhitzung.
1976 wurde der „vermutlich schwerste Störfall“ ('Spiegel‘)
registriert. Nach einem Reaktorbrand fiel das gesamte Kühlsystem für Block I aus. Nur der Umstand, „daß zufällig eine der sechs Notkühlpumpen an den Stromkreislauf des Nachbarreaktors angeschlossen war, sicherte notdürftig die Kühlung und verhinderte eine Kernschmelze“.
Das staatliche „Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz“ hat in einer Stellungnahme inzwischen die Störfälle heruntergespielt. Es sei nicht zu „unzulässigen Strahlenbe
lastungen“ gekommen, die Überwachungsvorrichtungen hätten funktioniert.
Die wichtigsten Befunde des 'Spiegel‘ sind volltrunkene Kraftwerker, ein undichtes und schief stehendes Reaktorgebäude, mit Spachtel und Farbe getarnte fingerdicke Schweißnähte, gravierender Ersatzteil- und Materialmangel, fehlendes Containement, Leitungssalat, Handarbeit bei vielen strahlungsrelevanten Tätigkeiten, kreischende Stähle, absackende Fundamente und 10.000fache Grenzwert -Überschreitungen.
Besonders gefährlich sei der versprödete und angerissene Stahl im Reaktordruckgefäß. Um ihn zu „rekonstruieren“, hätten die Greifswald-Techniker ein auf der Welt einzigartiges Gerät erfunden: die ato
mare Taucherglocke. Um die verrosteten und mürben Teile vom Stahl zu schleifen, würden nach Entnahme der Brennelemente in regelmäßigen Abständen Arbeiter in die Bleiglocke gesetzt und in den strahlenden Reaktorkern hinabgelassen. Doch der Metallfraß sei „irreversibel“ und verdiene „strengste Geheimhaltung“, heißt es in einem internen Bericht des Ostberliner Amts für Atomsicherheit und Strahlenschutz.
Die Geheimhaltung der Unfälle und „Zustände“ in Greifswald besorgte eine nur für Greifswald zuständige Stasi-Truppe mit 40 Hauptamtlichen. Systematisch seien die Beschäftigten eingeschüchtert und zum Stillschweigen vergattert worden. Gehälter von 1.500 bis 1.900 Mark, fast das Doppelte als in ande
ren Branchen, hätten die Arbeiter trotz der Strahlenbelastungen bei der Stange gehalten. „Die Praxis des Verheizens von Menschenmaterial“, so zitiert das Magazin eine Führungskraft von Greifswald, habe zur Betriebsroutine gehört. Für Entseuchungsarbeiten seien sogar Soldaten der NVA eingesetzt worden. Bei sechs AKW-Arbeitern seien Chromosomenschäden festgestellt worden, Todesfälle und Krebserkrankungen hätten immer wieder für Unruhe gesorgt. Die Arbeiter selbst wußten über den Zustand der Anlage sehr wohl Bescheid. Sie hatten das Greifswalder „Kraftwerk-Nord“ längst in „Tschernobyl-Nord“ umgetauft, seine anfällige und veraltete Technik sei „vom russischen Samowar abgekupfert“.
gero/-man
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