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Gegen die Repression in Südamerika

Isabelle und Paul Duchesnay präsentieren morgen bei der Europameisterschaft in Leningrad die erste revolutionäre Kür der Eistanz-Geschichte / Die 'taz‘ kiebitzte bereits im Training  ■  Von Thomas Schreyer

Isabelle blättert in ihrem Terminkalender. Die letzten zwei Monate sei kein einziger Tag mehr frei gewesen, gibt sie zu bedenken. Ausnahme: Zwischen 15 Uhr 10 und 16 Uhr, in sechs Tagen, könne gerade noch ein Termin für ein kurzes Interview vergeben werden.

Selten ist es überhaupt noch möglich, von Isabelle und Paul Duchesnay selbst einen Termin zu bekommen. Zu viele Anfragen, spätestens seit dem dritten Platz bei den Weltmeisterschaften 1989 in Paris, machten es erforderlich, Manager auf den Plan zu rufen, die die Wünsche der Interessenten überprüfen und weiterleiten. Seit die Firma MacCormack der „International Management Groups“ diese Aufgabe übernommen hat, „wird uns vieles abgenommen“, sagt Isabelle erleichtert. Nach Paris hätten Leute sogar um Mitternacht noch angerufen, um „uns für eine Zirkusvorführung, für einen Film oder sonst was Verrücktes zu engagieren!“

Für solche Dinge wäre auch keine Zeit (selbst die Schneiderin muß um einen Termin kämpfen), solange die Duchesnays noch „Lust am sportlichen Wettbewerb“ finden. „Profi-Angebote haben wir abgelehnt, weil wir mit unseren Darstellungsmöglichkeiten noch nicht fertig sind, unseren Höhepunkt noch nicht erreicht haben“, sagt Isabelle. „Die Wettkämpfe erschienen uns noch interessanter.“

Ein Tag auf Kufen

Dafür stehen die beiden in Frankreich geborenen, in Kanada aufgewachsenen und zur Zeit in Oberstdorf lebenden Geschwister fünfmal am Tag auf den Kufen: um 9 Uhr, 11, 13, 16 und 18 Uhr jeweils etwa eineinhalb Stunden. Ob sie sich bei soviel Training nicht manchmal auf den Nerv gehen? „Na klar“, antwortet Isabelle entschlossen. „Wir wollten schon fünfhundert Mal aufhören, alles hinwerfen. Es gibt immer wieder mal eine Krise, vor allem bei einer neuen Kür. Irgendwann denkst Du: Es geht nicht mehr weiter, Du kannst einfach nicht mehr. Aber am nächsten Tag stehen wir wieder zusammen auf dem Eis.“

Einzelläufer würden mit sich selbst schimpfen. „Wir Eistänzer leben unsere Konflikte in der Gruppe aus.“ Sie würden auch alle „gut zusammenpassen“: Isabelle und Paul, der Trainer und Choreograph Martin Skotnicky und Ballettmeister Werner Lipowsky, den sie einfach „Lippi“ nennen.

Auf Trainer Skotnicky sind sie durch Zufall gestoßen: 1982 kamen die Duchesnays für drei Monate nach Oberstdorf, um den britischen Eistanzlegenden Torvill und Dean zusehen. Sie wollten bei Betty Calloway, deren Trainerin, üben, wurden dann aber an Martin Skotnicky weitergereicht. Seit 1983 sind die Duchesnays dauernd in Oberstdorf. Seit dieser Zeit auch starten sie für Frankreich, nachdem die beiden bei einem Turnier in St.Gervais einfach angesprochen worden sind. „Der kanadische Verband wollte uns seinerzeit nicht so unterstützen, weil bereits ein anderes Paar aus Calgary für die Olympischen Spiele in dessen Heimatort vorbereitet wurde.“ Solange die Ergebnisse bei Meisterschaften stimmen, ist der Verband damit einverstanden, daß die Duchesnays bei einem Choreographen in Oberstdorf trainieren. „Wir schicken nur die Rechnungen nach Paris.“

Der mit rund 15 Sponsoren zusammenarbeitende französische Eislauf-Verband macht dabei kein Minus: Das Publikum in Ost und West tobt, wenn die Duchesnays über das gefrorene Element gleiten, es belohnt die beiden mit Standovationen. Das war so, als Isabelle und Paul ihren Urwald-Tanz bei der EM 1988 in Prag aufführten, das war so in Budapest (WM 88), in Birmingham (EM 89) und erst recht in Paris (WM 89). Bei den Europameisterschaften in Leningrad wird es vielleicht schwieriger: Vor sowjetischem Publikum, wo auch noch zwei sowjetische Paare teilnehmen werden. Aber vielleicht verspüren die Russen auch im Sport die Lust nach Neuem. Denn so perfekt auch Klimova/Ponomarenko und Usova/Zhulin tanzen mögen - es ist nur eine Neuauflage von „bereits Gehabtem“, wie sich Ballettmeister „Lippi“ ausdrückt.

Den Duchesnays selbst ist die Plazierung ohnehin „völlig egal“, ist einzig und allein die Reaktion des Publikums wichtig und, „ob wir uns wieder ein Stück verbessern konnten“. Die Frage, wo sie sich international befänden, müsse das Publikum beantworten. „Wir können überhaupt nicht sagen, ob wir besser sind als die oder die. Das ist wie mit einer Banane und einem Steak: Es sind zwei völlig verschiedene Dinge“, meint Isabelle. Es seien unterschiedliche Charaktere und verschiedene Interpretationen. Wie wolle man das beurteilen, wo doch jeder anders darauf reagiere, eigene Assoziationen habe, sich jeder anders angesprochen fühle und schließlich jeder die Bewegung ganz anders sehe - entsprechend den eigenen Lebenserfahrungen.

„Wissen die Antwort die neun Preisrichter oder die 20.000 Leute, die uns sehen?“ fragt Paul. „Auf die Preisrichter ist nicht immer Verlaß.“ Die Wertungsunterschiede - oft bis zu einem ganzen Punkt - bestätigen die Aussagen Pauls: „Bei unseren Aufführungen wollen wir dem Publikum eine Mitteilung rüberschicken.“ Nur dann werde die Kür ein Erfolg. „Bei so manchem Schaulaufen haben wir schon die Erfahrung gemacht, daß wir unsere Kür nahezu perfekt gelaufen sind; aber wir waren nicht zufrieden, auch das Publikum hat nicht reagiert, wenn wir kein Gefühl gezeigt, unsere Musik nicht richtig gelebt haben“, erzählt Paul nachdenklich. Er denkt oft an Prag zurück, wo den Duchesnays ein grober Fehler unterlaufen war, das Publikum aber auf ihrer Seite war, „weil wir unsere Kür einfach durchgezogen haben, zusammen mit dem Publikum“.

King Kong mit Puppe

Mit Leib und Seele sind Isabelle, die 26jährige, und Paul, der 28jährige, bei der Sache, obwohl die beiden zu Beginn ihrer sportlichen Laufbahn dem Eistanzen eher abgeneigt waren: In ihrem Heimatort Aylmer (Provinz Quebec) betrieben sie das Paarlaufen, nachdem ihnen die Einzelwettbewerbe zu langweilig geworden waren. Mit der Zeit wurde aber Isabelle zu groß für ihren Bruder („Es sah aus wie King Kong und eine Puppe“), und dann passierte auch noch ein schwerer Unfall, als Isabelle (im Alter von elf Jahren) bei einer Hebefigur auf das harte Eis heruntergestürzt war. Die Eltern verboten ihr weiterzulaufen: entweder Eistanz oder gar nichts mehr, hieß die strenge Alternative.

Isabelle und Paul sorgten auf dem Eis für eine radikale Reformbewegung, mit der sie das Eistanzen - wie seinerzeit Torvill/Dean - wieder interessanter gestalteten. Nicht immer das alte Thema, daß der Mann die Frau umwirbt und diese ihm letztendlich zu Füßen liegt. Mit der neuen Kür, die sie abgesehen von einigen Ausschnitten im Rahmen von Schaulaufveranstaltungen - erstmals in Leningrad vorführen werden, begeben sich die Geschwister diesmal auf politisches Terrain: Zu einem Musikstück der Inka („Wir haben das Thema beim Ballett gesehen - die gesamte Choreographie hat, wie jedes Jahr, Christopher Dean entworfen“) stellen die Duchesnays den Kampf gegen die Repression in Südamerika dar. „Es ist ganz aktuell auf die Situation im heutigen Chile unter Diktator Pinochet oder wie es in Peru zugeht abgestimmt“, sagen die beiden. „Das Stück soll zeigen, wie die Leute vom Staat unter Druck gesetzt werden, aber trotzdem weiterleben.“

Martin Skotnicky fährt fort: „Das Volk kämpft gegen das Regime, aber es zweifelt auch.“ Paul nimmt Isabelles Kopf, versucht ihn zu Boden zu drücken, aber sie windet sich heraus. Sie entkommt ihm nicht, er hält sie am Arm fest. Und ein paar Kufenspuren weiter versucht Paul zu entfliehen: Isabelle hält Pauls rechten Fuß fest, während dieser zu entkommen versucht, indem er fast die ganze Diagonale der 30 mal 60Meter großen Eisfläche entlang sein freies Knie wie auch die Arme kräftig nach oben reißt. Es scheint, als seien es verlorene Kämpfe. „Wir lassen den Schluß offen“, verrät Martin Skotnicky, „und es soll eigentlich etwas Positives rüberkommen.“

Die Kür zeigt aber auch unbarmherzig die Realität: Einer bleibt auf der Strecke. Auf dem Eis ist es Isabelle.

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