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Triumph des gesundes Volksempfindens über Aids

PolInnen vertrieben HIV-Infizierte und Aidskranke von einem Gutshof bei Warschau / Vorurteile und mangelnde Hygiene führen dazu, daß die Gefahr vor einer HIV-Infektion größer ist als anderswo / Erste Patientenvertretung gegründet  ■  Aus Warschau Klaus Bachmann

„Wir haben die Fenster verbarrikadiert und Posten im Erdgeschoß bezogen. Jeder hat eine bestimmte Aufgabe übernommen, sollte ein Brand ausbrechen. Wir werden niemanden schlagen, wir werden nur versuchen, das Gebäude einigermaßen zu schützen.“ Der Mann sprach ruhig und gelassen, bereit, sein Haus zu verteidigen. Die Täter: Unbekannte aus der Umgegend, Nachbarn. Die Opfer: ca. ein Dutzend HIV-Infizierte und Aidskranke, die in einem kleinen, verlassenen, ihnen von der Stadt Warschau zugewiesenen Gut am Stadtrand wohnten. Doch der Verteidigunsversuch der Kranken scheiterte. Gestern haben die letzten vier das Gut bei Warschau verlassen, nachdem 150 PolInnen das Gebäude belagert und ultimativ zu dessen Räumung aufgefordert hatten. Die vier Kranken wurden im Ministerium für Gesundheit untergebracht. Beim Umzug eskortierten ein Vizeminister und ein Solidarnosc-Abgeordneter die Kranken durch die Menge. Das Helsinki-Komitee in Polen hat inzwischen Ministerpräsident Mazowiecki aufgefordert, eine Lösung anzubieten.

Der Abzug der Männer ist das traurige Ende einer lange schwelenden Auseinandersetzung. Schon kurz nach ihrem Einzug wurden die Gutsbewohner von einer Bande Jugendlicher überfallen und mit Steinschleudern beschossen: „Haut ab, oder wir machen Euch fertig.“ Nicht nur die örtlichen Diebe, Hehler und Säufer sind gegen die Kranken, auch das sogenannte gesunde Volksempfinden geht auf die Barrikaden. Dessen „Argumente“ werfen ein grelles Licht auf den Aufklärungsbedarf der Bevölkerung - übrigens nicht nur in Warschau: „Meine Hühner können die anstecken, und die legen dann giftige Eier.“ „Die rächen sich an uns für ihre Krankheit und stecken unsere Kinder an, das weiß man doch.“ Die Nachbarn stehen am Zaun des Guts und drohen mit den Fäusten. Die Verwalterin, die manchmal für die Kranken einkaufen geht, wird von allen geschnitten, bedroht. „Schmeißt die Aidser alle raus“, wird auf Flugblättern gefordert. Am 17.Januar nachts um drei flogen Ziegelsteine in die Fenster des kleinen Palastes. Es gibt kein Telefon, aber die Polizei findet ohnehin, die Kranken übertreiben. Bis zu der Drohung, daß das Haus angezündet wird.

Kaweczyn ist kein Einzelfall. Polens Bevölkerung ist der neuen Krankheit gegenüber hilfslos, sprachlos - und um so aggressiver. Jahrelang war das Thema Aids auch offiziell tabu, wie Ex-Regierungssprecher Urban einmal äußerte, „kein Problem Polens, weil es nur von ein paar Ausländern eingeschleppt wird“. Ausländische GaststudentInnen mußten sich einer Blutprobe unterziehen. Heute, so schätzt die recht seriöse Jugendzeitung 'Sztandar Mlodych‘ gibt es mehrere tausend HIV-Infizierte in Polen. Die Dunkelziffer ist hoch, erfaßt werden Infizierte und Kranke nicht, behandelt ebenso wenig. Der Versuch, in der Warschauer Muranowska Straße eine entsprechende Praxis einzurichten, scheiterte am Widerstand der Anwohner. Die glaubten, die „Fixer“ würden sie schon durch bloße Berührung anstecken. Eine Panik, die selbst der 'Tygodnik Solidarnosc‘ schürte, indem er behauptete, schon die Berührung der Bettwäsche Infizierter oder Aidskranker sei ansteckend. In der Muranowska Straße wechseln die Leute die Straßenseite, wenn ihnen ein Kranker entgegenkommt. Im Spital für Ansteckungskrankheiten in der Wolskastraße werden auch die HIV-Infizerte und Aidskranke behandelt; nachdem mehrere Schwestern kündigten, bezahlt das Gesundheitsminsiterium jetzt „Ansteckungszuschlag“, der das Einkommen auch jener Laboranten fast verdoppelt, die zwar in der entsprechenden Abteilung arbeiten, aber sich nach wie vor standhaft weigern, Blutproben Infizierter zu analysieren.

Inzwischen gibt es immerhin eine Interessenvertretung der Aidskranken in Warschau. Am 10. November vergangenen Jahres wurde sie unter dem Namen „Plus“ von Marek Kotanski, dem Gründer der „Monar„-Selbsthilfegruppen für Drogenabhängige registriert. Diese Kompetenzüberschneidung ist kein Zufall: Prof. Andrzej Stapinski vom Warschauer Venerologischen Institut: „Wenn wir nicht schnell etwas Drastisches unternehmen, werden in Kürze 60-80 Prozent unserer Drogenabhängigen Aids haben. 65 Prozent aller Aidspatienten haben sich als Drogenabhängige erwiesen.“ Diese sind in Polen noch größerem Risiko ausgesetzt als in westlichen Ländern. Dort haben sie wenigstens theoretisch die Möglichkeit, sich saubere Spritzen zu besorgen. Doch in Polens Gesundheitssystem sind Einwegspritzen selbst in den staatlichen Krankenhäusern Mangelware, der Bedarf ist nur zu 40 Prozent gedeckt. Kein Wunder, daß es da auch gleich Widerstand in der Bevölkerung dagegen gibt, an Drogenabhängige kostenlose Spritzen abzugeben: „Für unsere ordentlichen Kinder sind keine da, aber die Fixer kriegen welche umsonst“, heißt es dann.

Auch in Polen muß man nicht abhängig sein, um sich mit dem HIV-Virus zu infizieren. Übertragung der Krankheit durch Blutspenden wurde häufiger festgestellt. Dem 'Sztandar Mlodych‘ erzählte einer der ehemaligen Bewohner von Kaweczyn: „Mich hat meine geschiedene Frau angesteckt. Als es meine Mutter erfuhr, lud sie mich zu Weihnachten ein - es könnte ja mein letztes Fest sein. Aber als ich ankam, warf mich mein Vater raus - ob ich gekommen sei, ihn auch anzustecken?“ Vier seiner Mitbewohner waren zuvor obdachlos

-einem Aidskranken vermietet niemand in Polen ein Zimmer, Unwissenheit und Vorurteile führen oft dazu, daß sich sogar die Familie lossagt.

Dem „gesunden Volksempfinden“ nach ist Aids die Krankheit, die immer nur die anderen haben: die Prostituierten, die Homosexuellen, die Fixer. Alle, die man sowieso nicht leiden kann. Das Bewußtsein, daß besonders in Polen auch Otto Normalverbraucher besonders gefährdet ist, fehlt völlig: Vorsichtsmaßnahmen, die sich im Westen gegen die Verbreitung der tödlichen Infektionskrankheit durchgesetzt haben, wirken in Polen nicht: Kondome sind hier nicht nur Mangelware, sondern als Schutz auch äußerst unzuverlässig. Ganz abgesehen davon, daß ein Werbefeldzug für Präservative wie in der Bundesrepublik oder in Österreich im katholischen Polen eine Welle der Entrüstung hervorrufen würde.

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