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DDR war Scheinstaatlichkeit

Der wissenschaftliche Mitarbeiter der Grünen Udo Knapp fordert von seiner Partei, deutschlandpolitische Realitäten anzuerkennen und sich in der DDR einzumischen  ■ D E B A T T E

Zweistaatlichkeit war erfundene Scheinstaatlichkeit. Denn seit dem 9. November - so auch Berghofer - hat die DDR faktisch die Freiheit aufgegeben, einen eigenen Weg zu gehen. Anschluß steht auf der Tagesordnung, weil das Zu-uns -Kommen unersetzbarer Beschäftigter anders nicht aufhören wird. Die DDRler haben sich - vielleicht war das ihr revolutionärer Streich - das Selbstbestimmungsrecht für uns alle angeeignet. Sie bestimmen jetzt frech auf der Straße über unser aller politische Zukunft. Ob uns das paßt oder nicht. Die offenen Grenzen und die in der DDR gepackten Koffer sind für jede zukünftige Regierung zwingende Parameter ihrer Politik.

Die DDRler entscheiden jetzt, wie und was sie wollen, und das ist gut so. Sie wollen die Einheit - wir wollten sie mit guten Argumenten nicht. Jetzt müssen wir damit leben basta!

Als grüne Opposition in einer deutschen Republik, bald 16 deutschen Bundesländern im europäischen Bundesstaat, sind die Grünen stark im Kommen - europaweit sind sie einflußreicher als je zuvor.

Zugleich sind die Fluchten der DDR-Menschen in die Einheit, ins sozialdemokratisch wohlfahrtssichere „Gewerkschaftsheim“ (Fischer) mit grünen Vorhängen attraktiver als unsere ökologischen Zumutungen, ethischen Herausforderungen und republikanischen Unsicherheiten fürs nächste Jahrhundert. Wohlstand und Sicherheit geht ihnen jetzt vor ökologisch notwendiger Selbstbeschränkung.

Wo standen unsere Traditionssozialisten im Streit zwischen Leninismus/Stalinismus und kapitalistischer Demokratie? „USA -SA-SS“ - Amerika war vielen von uns das Sinnbild alles Bösen in der Welt. Beim Sozialismus haben viele über alles hinweggesehen. Einäugige Blinde? Nicht etwa erst Stalin hat den Sozialismus pervertiert, schon Lenin hat sich zu Unrecht auf das Erbe der europäischen Kultur, die Aufklärung und die Zivilisation berufen. Hartmut Jäckel erklärte: „Für mich haben Freiheit, Menschenrechte, Demokratie Priorität. Nach dem Staatsstreich der Bolschewiki war das erste, was Lenin abschaffte, die Freiheit, die Menschenrechte und die Demokratie. Darauf waren die Kommunisten überall in der Welt immer besonders stolz.“ Nicht ein Praxisfehler oder ein Versagen einzelner beim Aufbau staatsfixierter Kommandowirtschaftssysteme, aber menschenfeindliche geistige Grundlagen sind die Basis der totalitären Großverbrechen dieses Jahrhunderts gewesen. Und solange unsere Traditionslinke sich ihren „weißen Flecken“ nicht stellt, kann es keine geschichtsmächtige Alternative zur wohlfahrtsstaatsfixierten Sozialdemokratie und den nach wie vor industrialismusgläubigen Konservativen geben.

Die altergraute Linke kann nun nur zusehen und zynisch kommentieren, daß das Kapital zu einem Garanten für bessere ökologische und soziale Zustände in der DDR werden wird. Ob ihnen das paßt oder nicht. Die alte „DDR“ ist faktisch schon heute eine Filiale der Bundesrepublik. Sie ist kein souveräner Staat mehr. Modrow hat das in der vergangenen Woche bestätigt. Es geht nur noch um das „Wie“, nicht mehr um das „Ob überhaupt“. Mit der vermutlich schon bald bevorstehenden Aufgabe der Währungshoheit wird die DDR den letzten Anschein von Souveränität verlieren. Die nach dem 18. März zu wählende Regierung wird kaum mehr in der Lage sein, Bedingungen zu stellen. Daß die Rechts-, Sozial- und Eigentumsordnung in den fünf neuen Bundesländern der ehemaligen „DDR“ (Jochen Reiche) unserer sehr ähneln wird, steht heute schon fest. Offen ist nur noch die Frage der alten und neuen Bündnisse und die Einordnung der fünf neuen Bundesländer in die EG. Die fünf Neuen werden einerseits ein Markt und Lieferanten für billige und willige Arbeitskräfte sein, unverdorbene Tourismusidylle, Hoffnung auf Neuanfang und schnelle Gewinne. Andererseits wird die Bundesrepublik für die fünf neuen über Jahre hinweg Nettozahler in Höhe von vermutlich über 100 Milliarden Mark für den Aufbau eines Sozialversicherungs- und Rentensystems, die ökologische Sanierung und Infrastrukturmaßnahmen werden. Zur Finanzierung drohen uns entweder Steuererhöhungen, Zugriffe auf Teile der Sparguthaben der westdeutschen Bürger, Anleihen auf dem Kapitalmarkt (höhere Staatsverschuldung) oder eine partielle Reduzierung der Währungsreserven der Bundesbank.

Es ist hohe Zeit für die Bundesbürger und uns Grüne, aufzuwachen. Das Verzichten-Müssen für die Menschen in der alten „DDR“ wird allen Bundesbürgern sehr viel abverlangen.

Lafontaine hat als erster die Angstgefühle dazu angesprochen, aber nur sozialpopulistische Überschriften geliefert. Sein eigener Vorschlag bestand nur darin, DDR -Umsiedler zu Bürgern zweiter Klasse und die Aussiedler zu Ausländern zu machen. Aber als Kanzlerkandidat muß er sagen, wie die Lasten der sozialen Rekonstruktion der fünf neuen Bundesländer finanziert werden sollen. Ein Kanzler Lafontaine, der als Sturmflutkanzler - wie weiland Schmidt schon von vornherein die in den letzten Jahren entwickelten ökologischen und sozialpolitischen Reformkonzepte, z.B. die Mindestsicherung, über Bord wirft, der wird nur das Original Bundesrepublik auf die fünf Neuen übertragen können - das kann Kohl besser. Über das Paarlaufen von Brandt und Lafontaine geht die Geschichte in kurzer Zeit ebenso hinweg, wie über Fichters Vorstellung von einer Konföderation.

Wir Grünen müssen nicht in Panik oder Depressionen fallen, wenn wir im deutsch-deutschen Anschlußdrama nicht auf der Lokomotive stehen. Wir wollten das nicht, und das war gut so. Wir werden auch nicht die Bremser spielen können. Rot -Grün dagegen ist in den fünf neuen Bundesländern der alten „DDR“ eine sichere und in der Bundesrepublik eine mögliche politische Chance und Perspektive. Wenn die Grünen jetzt nicht hier bei uns in der Bundesrepublik den uneingeschränkten Willen zum Mitregieren aufbringen, gerade jetzt die Verpflichtung, der leidenschaftliche Anwalt ökologischer und sozialer Reformen zu sein, annehmen und die grün-demokratische Opposition - und nicht die alten und neuen Linken - bei den bevorstehenden Wahlen unterstützen, ist unser Abtreten von der politischen Bühne entschieden.

Der ökologische Strukturwandel, von dem im Westen so leicht zu reden ist, der hier aber so schwer umzusetzen ist, weil viel zu viel falsch festliegt, kann in dem bevorstehenden Wirtschaftsaufbau bei den fünf Neuen von Anfang an viel organischer eingebaut werden. Beispiele: Regionale Energieversorgungssysteme, in erster Linie Kraft-Wärme -Kopplung und kleine Heizkraftwerke, können den dortigen Energiebedarf umweltverträglicher erfüllen und Modell nicht nur für die Bundesrepublik, sondern auch für die anderen europäischen Länder werden.

Auch für Demokratisierung und friedensstiftende Außenpolitik gibt es gute Chancen: Die in absehbarer Zeit notwendige verfassungsgebende Versammlung für alle 16 Bundesländer, die das Grundgesetz selbst vorsieht und die in Weimar tagen sollte, kann und sollte die dezentralen und regionalen Elemente des Staatsaufbaus entscheidend verstärken.

Jeder realistisch denkende Zeitgenosse erkennt, daß eine vereinigte deutsche Republik als militärische und wirtschaftliche Macht ersten Ranges eine Bedrohung für alle europäischen Nachbarn darstellt. Die Gefahr kann nur dadurch abgebaut werden, daß diese Republik sich von Anfang an bereithält, ihre Souveränitätsrechte an einen europäischen Bundesstaat abzutreten. Der kann sich nur aus der EG entwickeln. Er muß offen sein für alle Staaten Osteuropas.

Das durch Kriege gezeichnete 20. Jahrhundert kann mit einem friedlichen Neuanfang für ganz Europa beendet werden. Der Gegensatz von Kapitalismus und Sozialismus ist erledigt. Im 21. Jahrhundert müssen andere Fragen dominieren. Die Gattungsfrage, die Frage des umweltverträglichen Überlebens der einen Menschheit muß dann das Handeln in der Politik bestimmen. Jens Reich hat in seiner Rede in der letzten Woche beim Neuen Forum in Berlin genau das ausgedrückt: „Wir wollen nicht das 20. Jahrhundert politisch nachholen, nicht die Landschaft der Bundesrepublik abmalen, sondern die politische Kultur des 21. Jahrhunderts in Europa entwickeln.“

Udo Knapp

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