: Die Angst vor der Spaltung
■ Gorbatschow wird sich jetzt für die Radikalen entscheiden müssen
Schon die Gerüchte im Vorfeld des ZK-Plenums der KPdSU machten deutlich, daß es sich bei dieser Sitzung um keine gewöhnliche handeln wird. Neben entscheidenden innerparteilichen Reformen sieht ein Programmentwurf sogar die Streichung des Artikels 6 der Verfassung vor, der bisher der Partei ihre gesellschaftliche Hegemonie gesichert hat. Noch im Dezember hatte Gorbatschow strikt dagegen opponiert. Zur Debatte steht jedoch viel mehr, nämlich die Einheit der Partei. Hatte Gorbatschow bisher durch Rücktrittsdrohungen die ineffektive Allianz aus Radikalen, Zentristen und Konservativen immer wieder auf Linie gebracht, so hat sich dieser Mechanismus verschlissen. Immer klarer wird, daß der Hemmschuh einer konsequenten Umsetzung der Reformen die Angst vor einer möglichen Spaltung der Partei gewesen ist. Diese Erkenntnis trieb Gorbatschow stärker in die Schußlinie der Radikalen, aber auch seiner eigenen Berater. Nun soll gar seine Mehrheit im ZK auf dem Spiel stehen. Um die Perestroika zu retten, müßte er daher eine Koalition mit den Radikalen eingehen. Eine Preisgabe des Machtmonopols käme bereits einer Spaltung gleich. Ein solcher Schritt würde der Sowjetunion zunächst eine verschärfte innenpolitische Phase bescheren und darüber hinaus die Koordinaten des Riesenreiches verschieben. Am Ende könnte aber ein Rumpfstaat der RSfSR stehen, der eine konsequente Fortsetzung des begonnenen Kurses verfolgt.
Der Verzicht auf den Führungsanspruch bedeutet zugleich einen weiteren Abbau leninistischer Prinzipien. Ohnehin hatte die Ideologie in den letzten Jahren zunehmend einen Bedeutungsverlust erlitten. Sie mußte nur noch als lockerer Bezugsrahmen herhalten, deren gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit längst nicht mehr eingeklagt werden konnte. Entfällt nun der Führungsanspruch, wird dies nolens volens auch den Weg in das Mehrparteiensystem öffnen. Auch eine neue alte konservative KP wird entstehen, die als Sammelbecken all jener Unzufriedenen dienen könnte, die schon jetzt zu autoritären Lösungen neigen und sich auf russisch-nationale Ideologeme beziehen. Offenkundig scheint die letzte Chance gekommen, um durch die Preisgabe des Führungsanspruches das Projekt Perestroika zu retten. Selbst das warnende Beispiel des kläglichen Abgesangs der osteuropäischen Bruderparteien kann diese Dynamik nicht mehr aufhalten. Heute scheint man sich in der SU auf dieses Wagnis einlassen zu müssen. Die Erosion des Leninismus wird sich hier allerdings in anderen Verlaufsformen vollziehen als in Osteuropa. Er wird nicht binnen Wochen von der Bildfläche verschwinden. Zu stark waren bisher die Legitimation von Staat und Partei mit dieser Ideologie verknüpft. Sie stellte das Konstituens der Staatsräson, und ihre integrative Kraft beschränkte sich eben nicht nur auf die Reihen der Nomenklatura. Noch ist auch dazu keine Alternative in Sicht. Der schwülstige russische Nationalismus mit seinen immer auch imperialen Konnotationen ist obsoleter denn je. Er wird zwar seine Wähler finden, aber eine hegemoniale Rolle wird er nicht erlangen.
Wenn die KPdSU mit diesem Beschluß ihre Selbstdegradierung exekutiert, weist das auf eine ausweglose Lage hin. Die Protagonisten im Kreml werden sich darüber im klaren sein, daß damit auch der Bestand der Union als multinationaler Staat ad acta gelegt ist. Er müßte eine neue Legitimation erfahren, und dies ist undenkbar angesichts der exzessiven Gewalt zwischen den Nationalitäten. Ad acta hieße, im Kreml bereitet man sich bewußt auf einen Austritt des Baltikums, Aserbaidschans und wohl auch Georgiens aus der Union im Laufe der 90er Jahre vor. In der friedlichen Lösung der Nationalitätenkonflikte liegt auch die einzige Chance, in einer verjüngten Sowjetunion das Projekt Perestroika in einigen Jahren wiederaufzunehmen. Derzeit wird das Reformvorhaben zunehmend diskreditiert, seine Implementierung durch die gesellschaftliche Desorganisation paralysiert. Um es noch einmal zu sagen: Wie stark und schwach darf ein Generalsekretär der KPdSU heute eigentlich sein, um den Zerfall seines Reiches fast unbeschadet zu überstehen? Wirft das nicht ein Schlaglicht auf den Zustand der Gesellschaft und zugleich darauf, daß es keine Alternative zum Umbau gibt? Deshalb muß Gorbatschow die Trennung von den Konservativen auch jetzt vollziehen.
Klaus-Helge Donath
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