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Greifswalder Atomwerker ballen die Fäuste

Am Dienstag abend gingen 4.000 Beschäftigte des Reaktor-Invaliden auf die Straße / Neuer DDR-Energieminister Pflugbeil als Prügelknabe / Bundesdeutsche Atomkritiker wollen bis April ein eigenes Sicherheitsgutachten vorlegen  ■  Von Gerd Rosenkranz

Greifswald (taz) - Die GreifswalderInnen haben ihr neues Feindbild: Gestern die Stasi, heute der Runde Tisch. Gestern Erich Honecker, heute Sebastian Pflugbeil. „Runder Tisch zu Harry Tisch!“, „Runder Tisch in die Produktion!“, „Pflugbeil wie die Axt im Wald!“. Die Parolen sind austauschbar, die Buhmänner kommen und gehen. Rund 4.000 Atomwerker des „KKW Bruno Leuschner“ und ihre Familien zogen am Dienstag abend durch die Plattenschluchten der Ostseestadt, um gegen die drohende Stillegung der Pannenzentrale zu protestieren. Eine halbe Stunde früher als gewohnt hatte sich der Pendelzug der Werktätigen von der Atomzentrale bei Lubmin in Richtung Greifswald in Bewegung gesetzt.

Hätte sich Sebastian Pflugbeil, gerade einen Tag Minister in Modrows „Regierung der nationalen Verantwortung“, am Südbahnhof den DemonstrantInnen gestellt, er wäre wohl kaum unversehrt davongekommen. Er hat darauf verzichtet. Die für ihn bestimmte (verbale) Prügel bezog dafür die grüne EG -Abgeordnete Eva Quistorp, die sich tapfer an die „lieben Greifswälder und Greifswälderinnen“ wandte. Die waren gar nicht lieb, und Quistorps Ansprache ging im allgemeinen Geschrei unter und in den Rufen: „Wo ist Pflugbeil?“

Mit der eigentlich selbstverständlichen Forderung, die desolate Reaktoranlage müsse sofort geschlossen werden, wenn sich die Berichte der vergangenen Wochen bestätigen, hat sich der Energieexperte des Neuen Forums schlagartig zum bestgehaßten Mann in seiner Heimatstadt Greifswald gemacht. Und als schließlich ein etwa zehnjähriger Junge, vorgeschickt wie zu Honnies besten Zeiten, ängstlich vor der empörten Menge ins Mikrofon stammelte: „Womit sollen wir denn heizen, ohne Kernkraftwerk“?, kam prompt die deutscheste aller denkbaren Antworten: „Dann heizen wir mit Pflugbeil!“... Jubel, Gelächter.

Szenenwechsel: In der gedämpften Atmosphäre des Konferenzraum der Atomzentrale sitzt Minister Pflugbeil, vollbärtig, klein, bescheiden, fast ängstlich neben den leitenden Herren der gigantischen Anlage. Unten vor dem Tor hatte ihn bereits ein zweiköpfiges Komitee der Betriebsgewerkschaftsleitung, einen Stapel Resolutionen in der Hand, empfangen: „Herr Minister, wir protestieren gegen Ihre Stillegungsforderung, Zweifel an der Sicherheit allein zählen für uns nicht.“ Artig nimmt Pflugbeil das Papier entgegen. Es seien „begründete Zweifel“, erklärt er. Und: „Wir sind auf der Suche nach der Wahrheit.“

Die Suche könnte sich spannender und offener entwickeln, als es insbesondere den westdeutschen Helfern von Reaktorminister Töpfer bis Preussen-Elektra-Chef Krämer lieb ist. Denn angeschoben von der EG-Abgeordneten Quistorp und Vertretern des Runden Tisches saß Kraftwerksdirektor Reiner Lehmann und seinen Männern aus dem Atomkraftwerk an diesem Mittag eine erstaunliche Runde aus dem Westen gegenüber: Professor Klaus Traube von der Universität Kassel, Michael Sailer vom Öko-Insitut Darmstadt, Helmut Hirsch von der Gruppe Ökologie Hannover und eine Reihe weiterer Energieexperten - die Creme der bundesdeutschen Atomkritiker. Sensationeller als die Zusammensetzung dieser wißbegierigen Crew war am Ende das Ergebnis der ersten Diskussionsrunde am eckigen Tisch von Greifswald. Die beiden anwesenden Minister, neben Pflugbeil noch der von der „Grünen Liga“ entsandte Klaus Schlüter, werden in der Regierung dafür sorgen, daß Töpfers Greifswald -Untersuchungstrupp nicht allein bleibt. Parallel soll die Kritikergruppe auf der Basis vollständiger Unterlagen „Technische Jahresberichte“ und „Sicherheitsberichte“ aller Greifswalder Reaktorblöcke - die Gesamtanlage ebenfalls unter die Lupe nehmen und bis Ende April zeitgleich eine eigene Sicherheitsanalyse vorlegen.

Töpfer, der die Bonner Reaktorsicherheitskommission (RSK) nach wie vor konsequent Atomkritiker-frei hält, wird sich gegen einen entsprechenden Vorschlag der DDR-Regierung kaum zur Wehr setzen können. Denn „Reaktorsicherheitsminister der DDR“ ist er nicht und will es nach eigenem Bekunden auch nicht werden.

Lehmann hatte zuvor über zahlreiche teils notdürftig behobene, teils weiterbestehende Sicherheitsmängel im AKW Bruno Leuschner berichtet. Die „Meß-, Regel- und Diagnosesystem“ müßten „schnellstens stabilisiert werden, wenn überhaupt weiterbetrieben werden kann“. Niemand mache sich in Lubmin Illusionen, daß die möglichen, immens teuren „Rekonstruktionsmaßnahmen“ bis zu den heute üblichen Standards betrieben werden könnten, meinte Lehmann.

Nachdem Michael Sailer seinen umfangreichen technischen Fragenkatalog - „zugegeben eine sehr lange Latte“ vorgetragen hatte, zuckte der AKW-Chef zunächst resigniert die Schultern: „Da können wir uns vier Monate drüber unterhalten.“ Ähnliches, wenn auch nicht von Angesicht zu Angesicht, wird nun wohl anlaufen, nachdem Lehmann sein Einverständnis lediglich von der Zustimmung der Ostberliner Regierung abhängig machte. Zwar arbeite die von Töpfer installierte Kommission bereits „zum gleichen Spektrum“. Aber, sinnierte Lehmann, ihm sei „bewußt, daß es zwischen Öko-Insitut und der Gesellschaft für Reaktorsicherheit gewisse Abweichungen gebe.

Anschließend darf die Kritikerschar, im Troß FotografInnen und JournalistInnen, einen Blick zwar nicht in den Bauch, aber in die Lunge des gigantischen Monstrums von Greifswald werfen: 1.000 Meter lang ist die Halle, die die Turbinen und Rohrsysteme, also den verwirrenden konventionellen Teil aller vier derzeit betriebenen Reaktorblöcke enthält. Es dampft, qualmt und lärmt wie in anderen Stromfabriken auch. Die Reaktorgebäude bleiben verschlossen, und niemand scheint besonders interessiert, sich ihnen zu nähern. Statt dessen ein Besuch in der Schaltwarte.

Auch hier tausend Lämpchen, Schemazeichnungen und Knöpfe, überwacht von vier Mann, Tag und Nacht, jeweils acht Stunden, am Wochenende zwölf. Letzte Eintragung im Betriebsprotokoll: „12.15Uhr: 5 M 59 und 5 M 60 bringt laufend Signal“. Beruhigend. Der Blick auf Hebel und Schalter macht dem Elektronikdesign-verwöhnten Westauge schlagartig klar, was hiesige Atomfreunde meinten, als sie sowjetische Reaktortechnik bis Tschernobyl als „sicher und robust“ einordneten - Erinnerungen an die 50er Jahre.

„Wir fordern sachkompetente Entscheidungen, Herr Pflugbeil“ ist auf einem Spruchband zu lesen, das aus den Büroräumen der Betriebsgewerkschaftsleitung flattert. Es ist den GreifswalderInnen zu wünschen, daß sie bekommen, was sie verlangen.

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