: Die Toskana-Havarie
■ Manfred L., Lehrer und der bundesdeutschen Beamtentristesse überdrüssig, träumt vom großen Ausstieg: Arbeiten in und mit der Natur, frei, selbstverwirklicht und alternativ. Das toskanische Bauernhäuschen war leicht gefunden, auch der Einstieg in den Ausstieg fiel ihm nicht schwer. Aber dann kam alles ganz anders.
Von
RÜDIGER KIND
anfred Lommel war Lehrer, und niemand wollte ihn. Der Kultusminister fand es unpassend, daß er seine Schüler statt des Morgengebets zwölf Kernsätze des Kommunistischen Manifests im Chor aufsagen ließ, in der GEW eckte er an, als er die Koedukation von Drogenabhängigen und Klosterschülerinnen zur bildungspolitischen Perspektive der neunziger Jahre erheben wollte, dem trotzkistischen Kaffeekränzchen wurde er suspekt, als er die Kondensmilchdose mit seinem Eispickel öffnen wollte. Niemand wollte ihn, niemand brauchte ihn. Und nicht einmal er selbst war sicher, ob er in diesem Land wirklich so notwendig war. Also stieg er aus. Bei Nacht und Nebel verließ er die bleiche Mutter Deutschland, um sich Mamma Italia an den Busen zu werfen. Sie, das wußte Manfred Lommel, hatte ein größeres Herz und konnte einen Pechvogel wie ihn leicht mitsäugen.
Schon kurz nach dem Brenner fiel ein Gutteil der teutonischen Schwere von ihm ab, selbst sein altersschwacher R 4 fuhr plötzlich wie befreit auf. Den Grund für die wundersame Wandlung stellte er in Rovereto beim ersten Tankstopp fest - die Matratze, die er auf dem Dach wohl eine Idee zu nachlässig festgeschnallt hatte, war nicht mehr da. Was brauchte er auch solch bürgerlichen Tand, wenn er seine Bettstatt auf den satten Weiden der Campagna aufschlagen konnte!
Die Immobilienpreise waren höher als erwartet. Wie gut, daß sein Vater schon bei seiner Geburt einen Bausparer aus ihm gemacht hatte! Auf diese Scheine konnte er jetzt bauen. Schließlich fand er sein Traumobjekt - einen leicht renovierungsbedürftigen toskanischen Bauernhof inklusive Weinberg und einem jahrhundertealten Olivenhain.
um erstenmal in seinem Leben glaubte er zu wissen, was er wollte: ALLES selbermachen! Mit seiner Hände Arbeit würde er dem Boden einen grundehrlichen Wein entwinden, der möglicherweise kargen Scholle das echte unverfälschte Korn abtrotzen. Jenseits von Edeka wollte er das Brot der späten Jahre und die weiße Milch der Kühe kosten - koste es was es wolle.
Ah! - Wolle. Schafe mußten her. Am besten eine ganze Herde. Er würde sie im Sonnenglanz des toskanischen Herbstes in einer archaisch-kultischen Zeremonie unter einem Olivenbaum scheren, und während er die Schafe hütete, würde er die Wolle verspinnen und im Winter am knisternden Kamin zu einem wärmenden Wams verarbeiten. Selbstgestricktes hatte er schon immer geliebt.
Die Milch würde er zu einem unvergleichlich mild-würzigen Käse verarbeiten und den Wein, der hinter seinem Haus zu wachsen hatte, würde in Germaniens Kneipen reißenden Absatz finden. Ein Faß nur, natürlich vom Besten, würde in seinem Keller bleiben und die Gespenster der Einsamkeit vertreiben helfen. Denn von Menschen hatte Manfred Lommel vorerst die Nase gestrichen voll.
ach einem Jahr wären ihm nicht ganz so alte Olivenbäume lieber gewesen. Sie hatten, wie Giuseppe, sein uralter Nachbar kichernd mitteilte, im strengen Winter 41/42 einen solchen Frost abbekommen, daß seither kein Schütteln half die Bäume warfen keine einzige Olive mehr ab. Manfred lachte nur. Dann würde er seine Tomaten eben ohne Öl essen.
Ein halbes Jahr später gab es weder Tomaten noch was zu lachen. Eine Armee ihm unbekannter Schädlinge hatte seinen mühsam angelegten Gemüsegarten zum Truppenübungsplatz auserkoren und verteidigte ihn so zäh gegen alle B-Waffen, die Manfred Lommel unter schwersten Gewissensbissen zum Einsatz brachte, daß er alle Grundsätze fallenließ, die ihn bislang als kompromißlosen Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer ausgezeichnet hatten. Schaudernd griff er zur chemischen Keule. Das C-Reizgas, das er im Trubel einer Sitzblockade einem Polizisten entwendet hatte, wirkte Wunder - die Schnecken, Raupen, Würmer und Käfer streckten alle Viere von sich. Die Tausenfüßler alle Tausend - doch die Bohnen und Zucchini fielen leider auch vom Stengel. Und selbst die Tomaten, die er früher der verhaßten Ausbeutergesellschaft ins Antlitz geschleudert hätte, grinsten nun ihm faul ins Gesicht.
Die Natur, mit der er in gleichberechtigter Partnerschaft hatte leben wollen, war sein erbittertster Feind geworden. Immer mehr wurde Manfred Lommel auf sich selbst zurückgeworfen. Seine Bedürfnisse glichen sich allmählich denen eines in Askese verharrenden Einsiedlers an. Aber waren Schwierigkeiten nicht dazu da, überwunden zu werden? Hatte er nicht aus den vielen Aussteigerberichten die Überzeugung gewonnen, daß es Zähigkeit, Beharrlichkeit und fast übermenschlicher Geduld bedurfte, um die Utopie eines Lebens abseits der ausgetretenen Pfade des Konsums und der Entfremdung zu verwirklichen? Manfred Lommel wußte, daß er diese Tugenden besaß.
ls der toskanische Winter ins Land und der romantische offene Kamin nicht zog, bedauerte Manfred, sich nicht beizeiten ein Schwein angeschafft zu haben. Er hätte es jetzt schlachten und ohne größere Umstände im Wohnzimmer räuchern können. Nächstes Jahr, dachte er. Blieb der Wein. Unter Anleitung Giuseppes hatte er den halb verdorrten Weinstöcken Trauben abgerungen und zu einem, da war er sich ganz sicher, meisterlichen Tropfen vergoren. Seine Besucher waren da ganz anderer Meinung. Sie waren sich sicher, daß daraus ein hervorragender Essig zu machen sei. Wozu aber brauchte Manfred Lommel Essig? Da hatte er den Salat. Doch hatte nicht sein Vater wieder und wieder gesagt: „Was ein Lommel ist, der gibt nicht auf!“? In seinen schwärzesten Stunden gab dieser Satz Manfred Hoffnung und Trost.
Und die Schafe? Sie waren da, unüberhörbar, unüberriechbar, eine ganz allerliebste Herde, 20 Stück. Sie wurden Manfreds beste Freunde, seine Gefährten auf dem Weg zur Realisierung seiner kühnen Träume. Und sie sollten es auch bis zum bitteren Ende seines so ehrgeizig begonnenen Projekts bleiben.
Aufgrund der mangelhaften Heizleistung seines Kamins hatte es sich Manfred Lommel zur Gewohnheit gemacht, seine gute Stube zur Winterszeit in einen Stall zu verwandeln. In biblischer Eintracht schliefen Mensch und Tier, sich gegenseitig wärmend und schützend. Wenn Manfred einmal besonders gut aufgelegt war, hielt er ihnen schon mal einen Vortrag über das System der gesetzlichen Altersvorsorge in der Bundesrepublik oder erzählte ihnen eine Geschichte, die die Schafe, wie es ihm vorkam, mit beifälligem Scharren quittierten.
ls eines schönen Tages zwei Schafe fehlten, machte sich Manfred auf die Suche. Sie verlief ergebnislos. Wie sollte er sie auch finden in dem unwegsamen Gelände. Er war ja nicht einmal in der Lage, sich selbst zu finden. Manfred Lommel verfiel in eine tiefe Depression. Er vernachlässigte seine Schäferpflichten, und nach und nach kam ihm eins ums andere der Tiere abhanden.
Bis ein Entschluß in ihm heranreifte. Was wäre, wenn er einfach wieder zurückkehrte in die Gesellschaft der Spießer und Angepaßten? Das Experiment einfach abbräche? Mit den neugewonnenen Erfahrungen könnte er sich leicht seinen Weg durch den Dschungel der Ellbogengesellschaft bahnen! Was er noch vor Kurzem empört von sich gewiesen hätte, kam ihm plötzlich gar nicht mehr so abwegig vor.
Doch just in dem Moment, als er, an sein letztes Schaf geschmiegt, sinnierend im Bett lag und dabei war, diesem unerhörten Entschluß innerlich sein Jawort zu geben, gaben die, vom Holzbock vollständig durchwühlten Deckenbalken dem Druck der mächtigen Steinplatten nach, die seit Jahrhunderten geduldig getragen hatten. Krachend und donnernd stürzte die leicht renovierungsbedürftige Deckenkonstruktion herab, erschlug und begrub einen geistig eben zu neuen Ufern aufbrechenden Manfred Lommel unter sich. Das Letzte, was dieser ehrenhafte Visionär eines selbstverwirklichten Lebens von sich gab, war ein, vom ersterbenden „Mäh“ des neben ihm hingestreckten Schafs begleitetes, schon halb entseeltes „Bella ... Ciao!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen