: WIE WAREN WANDERN
■ Eine Dokumentation über Ladendiebe von Jon Alpert beim Videofest in der Medienoperative
Der Vorspann warnt: „Parental discretion is advised“, denn schließlich handelt es sich bei der Videodokumentation von Jon Alpert um Ein Jahr in einem Leben voller Verbrechen“.
Jeden Tag werden in den USA 96.000 Verbrechen begangen. Leicht wird es den Erwischten nicht gemacht. Das Downtown Community Television Center in New York, eine der staatlich finanzierten Public-TV-Stationen in den USA, die irgendwo zwischen unseren dritten Programmen und dem offenen Kanal anzusiedeln sind, produzierte Jon Alperts Verfolgung des Verbrechens: Zwölf Monate lang schaute er mit offener und versteckter Kamera den weißen Mittzwanzigern Robert, Mike und Freddy aus Newark, New Jersey, mit deren Einverständnis bei ihrer Arbeit zu. Jeden Tag steigen sie in ihre Autos, fahren rum und holen Sachen aus den Geschäften. „Besser als von neun bis fünf im Büro“, meint Robert. Ein Tag kann 500 Dollar bringen, aber der eigentliche Reiz liegt, das dokumentieren die Aufnahmen in Alperts verblüffendem Video, in der Leichtigkeit, im rasenden Kitzel des diebischen Vergnügens. Der Moment, in dem Bestecke unter erotischem Flüstern kartonweise im Koffer landen, Bettwäsche sich in Einkaufstaschen drängt, die Diebe elastisch aus dem Laden gleiten, ist an Hochgefühl nur dem des Drogenflashs zu vergleichen.
Nach dem Gerichtstermin klaut Freddy als erstes eine Ladung Alarmanlagen aus dem Autozubehörgeschäft. Wer je in den Genuß kam, einen Kleptomanen zu begleiten, kann nachempfinden. Mein Freund S. liebte den Moment, wenn er, nur noch mehr aufgestachelt durch mein angstvolles Abwinken, sich die dritte Bohrmaschine in den Mantel schob, er, ganz allein gegen alle Verkäufer und Detektive.
Natürlich ist die Existenz des professionellen Diebes nicht romantisch. Der Diebstahl ist nur eine der Drogen für Alperts Trio; alle haben sie zerstochene Arme und fehlende Zähne. Die Hälfte des gehehlten Geldes muß für die nächste anstehende Kaution zurückgelegt werden, denn daß sie wieder einfahren werden, ist den Jungs klar.
Die nervöse, aggressive Atmosphäre im Kreislauf der Delikte, alle sind auf Drogen, und Freddy braucht am Ende des Jahres 200 Dollar am Tag nur für Heroin, teilt sich in Alperts Video ungeschminkt mit. Die alltägliche Gewalt zu Hause, gegen Mütter, Frauen und Kinder, ist so banal wie böse. Aber sie ist keineswegs anarchisch, sondern verbindet sich ungezwungen mit anderen Versatzstücken der Lebensweise freier Gesellschaften. „What I do, is on my free will“, verkündet Robert, und eine kleine amerikanische Flagge blinzelt hinter dem Vorhang. Der Ladendiebstahl ist eingebettet in die Regeln des Marktes wie jedes andere Gewerbe auch. Leben von Delikt zu Delikt, dabei immer gehetzt: Keine Zeit zum Heraushandeln besserer Preise beim Hehler, dann lieber den unverkäuflichen Stapel Hemden in Robin-Hood-Manier an die Kinder auf der Straße verteilen.
Mike, der jüngste, weint, als er wieder hinter Gitter kommt. Zwei Jahre später hat ihn Alpert mit der Kamera noch einmal im Gefängnis besucht, man erkennt ihn kaum wieder, ebensowenig wie Robert. Empfehlen will er seine Karriere dem Zuschauer nicht. „Don't do it!“ ruft er dem Dokumentaristen mit dem eigenartigen Sinn für Humor in die Kamera. Und lacht.
Jon Alpert war auch in Angola und hat sich bissig wie moralinfrei durch die Kriegsmartern bewegt („Doctor, you got a lot of costumers here!“). Leider sind seine Dokumentationen nicht unter den Wiederholungen des Videofestprogramms, die ab 16. Februar auch in der Akademie der Künste (Ost) zu sehen sind.
Herr Spiegelberg
Programme in der Medienoperative noch bis zum 20. Februar
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