piwik no script img

Eine Amerikanerin in Berlin

■ Die New Yorkerin Marcia Pally btrachtet die Berlinale

Mein erstes wichtiges Thema heute ist der Eyeliner. Ich weiß, daß die meisten Leute vor allem aus politischen Gründen an den Filmen interessiert sind, die in der DDR seinerzeit von der Zensur verboten wurden und jetzt zum erstenmal wieder gezeigt werden dürfen, aber mir geht es vor allem um das Make-up.

Erstens weil im Westen immer der Eindruck vorherrschte, daß es seit Jalta in der gesamten DDR nur eine einzige Tube Mascara gegeben hat und wir an den Filmen, die jetzt aus den Archiven der Zensur geholt werden, sehen können, daß das Gegenteil richtig ist (was den ostdeutschen Kommunismus in meinen Augen erheblich aufwertet). Zweitens weil Angelika Wallers schlangengleiche Augenlieder und ihre Breathless -Lippen in Das Kaninchen bin ich mich an die Nouvelle Vague mit ihrer ganzen sparsamen, strengen Pracht erinnerten.

Der Film hat mir auch deswegen gefallen, weil hier zumindest eine Anregung dafür gegeben wird, wie die Vereinigten Staaten sich das Image eines Underdogs zulegen könnten, das sie dringend brauchen werden, wenn - wie so viele Amerikaner befürchten - das neue „Vaterland“ seine neue Weltherrschaft antritt, wobei die Japaner den Stil und die Mikrochips beisteuern.

Ein paar der Beschwerden, die in dem Film Das Kaninchen formuliert werden, sind in der Tat DDR-typisch, so zum Beispiel Wallers Vorwurf, daß der Richter, der ihren Bruder in dem Film wegen staatsfeindlicher Äußerungen zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, „den Sozialismus ganz für sich haben will“. (Das läßt den DDR-Kommunismus in meinen Augen wieder erheblich schlechter aussehen läßt. Der Staat mag vielleicht mehr als eine Tube Mascara zur Verfügung gestellt haben, aber ein Regime, das im Hinblick auf seine Unterdrückungsmechanismen nicht immer auf dem neuesten Stand ist, ist ganz einfach nicht mal seine Stiefel wert.)

Andere Beschwerden, die in Das Kaninchen geäußert werden, könnten dagegen durchaus in leicht abgeänderter Form auch in den Vereinigten Staaten verwendet werden - so zum Beispiel der Satz, daß es für eine Gesellschaft sehr viel gefährlicher ist, wenn ein unschuldiger Mann im Gefängnis sitzt, als wenn ein Schuldiger frei herumläuft. Unter dem Deckmantel des Antidrogenkriegs ist die Bush-Regierung gegenwärtig bemüht, eine Reihe kleinerer Bürgerrechten zu unterminieren, darunter den Schutz des Angeklagten während des Prozesses und den Schutz jedes Bürgers vor willkürlicher Durchsuchung und Verhaftung.

Es gibt bei uns eine Menge Leute, die dabei ohne weiteres mitspielen, weil sie sich sagen, daß es besser ist, einen Unschuldigen ins Gefängnis zu bringen als einen Dealer in ihrem Wohnviertel zu haben (wobei sie natürlich davon ausgehen, daß sie selbst nicht dieser Unschuldige sein werden). Ich schätze, das ist es, was auch uns zu einem unterdrückten Volk macht. Clevere amerikanische Filmemacher werden sicherlich schon bald dem DDR-Beispiel folgen und ihre Dokumentationen über staatliche Übergriffe im Stile des frühen Godard filmen.

Übersetzung: Hans Harbort

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen