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BERLIN IN 50 JAHREN

■ Perspektiven einer Weltstadt - Eine Social Fiction von 1926 In unseren Zeiten zunehmenden Metropolenfiebers, Zeiten, in denen uns angeblich schon wieder die halbe Welt gehört, sei hier zur Abkühlung und Mäßigung eine eher nüchterne Zukunftsvision abgedruckt, die jetzt 64 Jahre alt ist, also gewissermaßen kurz vor ihrer Pensionierung steht.

Vor dem Krieg suchten Realutopisten zu beweisen, daß Berlin in wenigen Jahrzehnten zwölf Millionen Einwohner haben würde. Straßen, die von hohen Stockwerkhäusern gesäumt werden sollten, waren kilometerweit schon abgesteckt, waren zum Teil schon asphaltiert und kanalisiert. Allen schien es, als würde die Stadt weiterwachsen wie seit der Reichsgründung. Jetzt, nach der Katastrophe des Krieges, sieht es anders aus. Nicht nur in Berlin, sondern überall. Eine anders geartete Entwicklung setzt in allen Großstädten ein. Sie mag in Berlin noch verzögert werden, weil es in Deutschland an Geld und wirtschaftlicher Bewegungsfreiheit fehlt; ganz unterdrückt kann sie aber selbst von den unnatürlichen Verhältnissen unserer Wirtschaft nicht werden. Das Großstadtproblem hat in ganz Europa, und auch in Amerika, mit denselben Ursachen und Wirkungen zu rechnen. Was sich grundsätzlich geändert hat, ist dieses: Die Entwicklung zielt nicht länger auf Zusammenballung ab, nicht auf eine Hypertrophie auf Kosten des Landes und der Kleinstadt, sondern es geht die Tendenz unverkennbar dahin, die Großstädte aufzulockern, den Geist der Stadt aufs Land hinauszutragen, Stadt und Land zur Einheit zu machen und die ganze Landschaft gewissermaßen in eine aufgelöste Großstadt zu verwandeln. Die jungen Architekten interessieren sich nicht so sehr für Stadterweiterungspläne, als vielmehr für Generalsiedlungspläne, wodurch ganze Länder und Provinzen regionenweise aufgeteilt werden. Die Neigung der Industrie, die Großstadt zu verlassen und ihre Arbeiter und Beamten neben den Fabriken auf dem Lande anzusiedeln, die zugleich machtvoll einsetzende Siedlungsbewegung, die im Gegensatz zur Landflucht auf einer bestimmten Art von Stadtflucht beruht, die sich langsam verwirklichenden Bestrebungen, dem Arbeiter so viel Land zu überlassen, daß er zur Not in Zeiten der Arbeitslosigkeit von dem Ertrag leben kann, die konsequente Aufteilung der großen Güter in Kleinbauerstellen, die Demokratisierung der Landbevölkerung, die Industrialisierung ihrer Arbeitsweise, das Städtische ihrer Lebensformen und endlich die Überwindung von Raum und Zeit durch Telefon, Radio, Eisenbahn, Auto und Flugzeug: Das alles sind Symptome dafür, daß sich der sozial und architektonisch zu fest geballte Großstadtkörper auflösen, daß sich die Großstadt in neuer Gestalt über das ganze Land ausbreiten will.

Dieser zwangsläufigen Bewegung wird auch Berlin folgen müssen. Wer sich den Ausbau Berlins so vorstellt, daß die Stadt immer mehr Dichtigkeit gewinnt, daß in der City Wolkenkratzer gebaut werden und die Vororte immer unübersehbar größer werden, wird enttäuscht werden. Berlin wird noch sehr wachsen und sich mehr verwandeln, als die Lebenden es sich schon vorstellen, doch wird der Gestaltwandel anders vor sich gehen als in der Verhangenheit. Eines Tages wird Groß-Berlin im Osten bis Küstrin und Frankfurt a.O. reichen und im Westen über Brandenburg hinaus, ja Berlin und die Mark Brandenburg wird ungefähr dasselbe sein. Die Reichshauptstadt wird etwas wie ein Stadtstaat, ein Stadtland neben vielen anderen deutschen Stadtstaaten sein. Und in dieser von vielen Millionen bevölkerten großstädtischen Region, die Berlin heißt, wird der Landbewohner ebenso zum Großstädter geworden sein, wie der ehemalige Citybewohner Freiluft atmen und ein Bewohner zum Teil ein Bebauer des Landes sein wird. Die neue Stadtprovinz wird von einem dichten Netz guter Automobilstraßen bedeckt, und der Massenverkehr wird Schnellverkehr sein. Borsigs Fabriken lagen vor vierzig Jahren am Oranienburger Tor; heute befinden sie sich zehn Kilometer weiter draußen in Tegel, nach einigen Jahrzehnten werden sie wohl fünfzig Kilometer von der City entfernt sein. Nicht anders wird es mit den Anlagen der AEG und denen anderer großer Industriekonzerne sein. Der Siedlungsbau der Stadt Berlin, der heute noch ziemlich planlos betrieben wird - trotz der eben fertiggestellten 1.200 neuen Siedlungswohnungen in Britz -, wird den Charakter einer großzügigen Kolonisation annehmen müssen. Der Serienbau von Häusern wird dann wie von selbst zu einer Industrialisierung der Bauarbeit führen, allen Widerständen der Interessenten zum Trotz. Häuser werden in Zukunft nicht anders hergestellt werden wie Automobile und Flugzeuge; das Handwerk der Zukunft heißt Technik. Die Folge wird sein, daß die Bauindustrie sich der typisierten, der normalisierten Formen bedienen und daß diese Arbeitsweise, daß die Konstruktion dann den Stil bestimmt, daß die individuelle Architekturphase einem Kollektivwillen Platz macht.

Der alte Kern Berlins, die heutige City, wird durch die Auflockerung der Stadt an Wichtigkeit nicht verlieren. Im Gegenteil: das Zentrum einer so breit sich ausdehnenden Stadt wird als Verkehrsknotenpunkt, als Clearinghouse, als Messestadt, Verwaltungsstelle und Regierungssitz nur um so wichtiger werden. Darum wird die City großzügig ausgebaut werden müssen, soweit die einmal vorhandenen Konstitutionsfehler Berlins es gestatten. Unvermeidlich sind einige der längst geplanten Straßendurchbrüche, andere, radikalere, werden folgen müssen. Sodann wird die Bahnhofsfrage gelöst werden müssen. Vorgeschlagen worden ist ein unterirdischer Zentralbahnhof in der Gegend und an Stelle des Humboldthafens, zu dem die Züge von weit her mit elektrischen Maschinen hingeführt werden. Wie immer diese Frage aber gelöst wird, ob man sich für einen Zentralbahnhof im Zentrum oder für ein paar Bahnhöfe weit draußen entscheidet: Der Zustand, wie er jetzt ist, wird sich nicht lange mehr halten lassen. Um so weniger, als die breiten Schienenstreifen, die von allen Seiten tief in die Stadt hineinführen, als Bauplätze auf die Dauer nicht entbehrt werden können. Sie zerreißen den Stadtplan, hemmen den Verkehr und liegen nahezu tot da. Besonders krasse Beispiele sind die breiten Schienengelände der Anhalter und Potsdamer Bahn und das große Gelände zwischen Stadtbahn, Spree, dem Packhof und dem Schloß Bellevue, gegenüber dem nördlichen Tiergarten. Dieser Platz wäre ein ideales Gelände für Museen und Ausstellungsgebäude gewesen; durch seine Aufschließung hätte der nördliche Tiergarten zu einem lebendigen Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens gemacht werden können.

Richtig ist die Idee, daß eine City mehrere Lebenszentren haben muß. Wie neben dem Alexanderplatz und der Friedrichstadt - die keineswegs tot ist - am Kurfürstendamm ein neues Zentrum entstanden ist, so werden sich weiterhin noch mehr Brennpunkte des geschäftlichen und gesellschaftlichen Lebens bilden. In London und Paris ist es nicht anders. Der Zug nach Westen dauert an. Das rechte Havelufer zwischen Spandau und Kladow hat so viel Zukunft, daß mit Recht gesagt worden ist, Berlin würde einst ebensowohl an der Havel wie an der Spree liegen und mit Potsdam zusammenwachsen. Diese Aussicht lenkt den Blick dann auf die Notwendigkeit, die Universität, die Kunstschulen und andere Bildungsstätten aus dem Zentrum zu entfernen. Alle Institute dieser Art mit den dazugehörigen Bibliotheken und Versuchsanstalten gehören aufs Land. Der Student gehört nicht in ein möbliertes Zimmer der Linienstraße, sondern in schöne „colleges“ mit Gärten und Ballspielwiesen, irgendwo in die Nähe von Wäldern und Seen, wo Sport getrieben werden kann. Innerhalb der aufgelockerten Großstadt wird notwendig eine besondere Universitätsstadt geschaffen werden müssen.

Trotz allem, was geschehen ist, kann Berlin als zurückgeblieben gelten. Es hat der Gesamtanlage von je der große Zug gefehlt. Was hätte städtebaulich aus der Spree gemacht werden können, und wie unfreundlich, ohne Kaie und Uferstraßen, ohne Personendampferverkehr geht der Fluß durch die Stadt dahin! Wie kümmerlich schreitet der Bau von Untergrundbahnen voran! Mit geteilten Gefühlen sieht man jetzt sogar der Verstadtlichung der Hochbahn zu, obwohl dadurch der Gesamtverkehr einheitlicher werden kann, weil man zu der Gemeindeverwaltung Vertrauen nun einmal nicht haben kann. Und wie beziehungslos liegen viele Stadtteile nebeneinander, ohne daß der Versuch gemacht wird, das Trennende zu beseitigen oder zu durchbrechen! Manches ist ja überhaupt nicht mehr zu verbessern. Was in Berlin aber noch zu ändern ist, wird in den nächsten Jahrzehnten in Angriff genommen werden müssen. Die Frage ist, ob es von Fall zu Fall, ängstlich, erzwungen, mürrisch, oder ob es mit Phantasie, mit Unternehmungslust und Kühnheit geschieht. Berlin wird in jeder Beziehung für Deutschland um so wichtiger werden, je mehr sich politisch und wirtschaftlich ein Unionismus durchsetzt und je mehr das zur Tat wird, was man mit dem Wort „die Vereinigten Staaten von Europa“ bezeichnet. In dem Maße aber, wie Berlin an Wichtigkeit gewinnt, wird es auch deutscher werden. Die neue Wichtigkeit wird freilich nicht symbolisiert werden durch Wolkenkratzer. Das Hochhaus wird in Deutschland immer nur vereinzelt auftreten. Die Bedeutung Berlins wird sich offenbaren in einer großzügigen Ausgestaltung der City und der folgerechten Auflösung der viel zu dichten Stadtmasse; für beide Aufgaben sind Gesamtpläne größten Stils nötig. Sie sollten vorbereitet werden von einer Studiengesellschaft, in der die Männer sitzen, die ein zukünftiges Ganzes zu sehen und die Mittel zur Verwirklichung vorzuschlagen vermögen.

Karl Scheffler, Juni 1926

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages Ullstein GmbH aus „Uhu, das Magazin der zwanziger Jahre“.

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