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Es war einfach zu leicht

■ Der schönste DDR-Tresorfilm heute im Forum: "Jahrgang 45" von Jürgen Böttcher

Jahrgang '45 ist nur der Arbeitstitel. Einen richtigen Namen hat der Film nicht mehr bekommen. Er war noch nicht fertig, da wurde er schon verboten, im Sommer '66. Auch der Ton ist nur Primärton: die Kamera surrt so laut, daß man die Dialoge kaum versteht, Gemurmel im Hintergrund. Manchmal hört man Böttcher, wie er Regieanweisungen gibt. Man kriegt Kopfweh beim Zuhören: Jahrgang '45 ist eine Zumutung. Aber sie lohnt sich.

Berlin, Prenzlauer Berg, Hinterhof. Al und Li liegen noch im Bett. Jeder in seinem, denn Li will sich von Alfred scheiden lassen. Das schönste an Li ist ihr Hals, das Schlüsselbein, der Nacken. Behutsam nähert sich die Kamera, entdeckt diese Stelle und betrachtet sie, von allen Seiten. Li schläft noch. Al ist schon wach. Eine Feder fällt ihm auf die Hand. Er pustet sie hoch, läßt die Feder auf seinen Armen tanzen, turnt ein bißchen auf dem Bett, schubst gegen das Bild an der Wand, damit es schief hängt. Li erwacht, Al will sie küssen, er schiebt ihre Haare beiseite, um den Hals freizulegen. Er ist in dieselbe Stelle verliebt. Aber Li will nicht. Sie muß zur Arbeit.

Al kriegt Besuch vom alten Nachbarn. Sie frühstücken. Im Radio wird die Musik unterbrochen, wegen der Nachrichten. Müssen die immer reden, sagt Al und dreht am Knopf. Gitarrenmusik und eine Frauenstimme. Sie singt ein trauriges Liebeslied. Is‘ doch schön, sagt der Alte und legt den Kopf ein bißchen schief. Eine verrückte kleine Szene. Der da Gitarre spielt, ist Wolf Biermann, und die Sängerin des von Biermann ins Deutsche übersetzten amerikanischen Songs ist Eva-Maria Hagen. Böttcher hat es geschafft, die Stelle mit dem Radio, zumindest erstmal, an der Zensur vorbeizuschmuggeln. Biermanns Stimme ist ja nicht zu hören.

Was der Alte für ein Gesicht hat. Abstehende Ohren, er pafft Zigarre und spreizt dabei den kleinen Finger ab, spitzt den Mund, läßt ihn geschlossen, und dann stößt er kurz und schnell den Rauch aus. Der Alte wird von Paul Eichbaum gespielt, ein Laie. Er wohnte im selben Haus wie Böttcher. „Wenn ich dem die Miete brachte“, erzählt Böttcher heute, „kam ich gar nicht mehr raus. Wie der die Zigarettenspitze hielt, die Augen, die Ohren...“ Böttcher hatte sich in den Alten verguckt, deshalb spielt er mit.

Viele waren Laien - Ralph Winkler alias Penck spielt eine Nebenrolle. Die Laeindarsteller fanden merkwürdig, was Böttcher da machte. Jahrgang 45 erzählt keine Geschichte, fast nichts passiert. Er ist auch nicht systemkritisch. „Bei mir“, sagt Al auf Arbeit zum Parteisekretär, „dat is nüscht Politisches“. „Ein richtiger Film wird das nicht“, sagten die Laien damals. „Ich habe ihnen“, erzählt Böttcher heute, „den Film nie zeigen können“. Paul Eichbaum ist tot.

Politik kommt nicht vor, vielleicht war das der Grund für das Verbot. „Er war einfach zu leicht“, meint Böttcher. Jahrgang 45 ist ein Film über Bewegungen. Al tanzt mit der Hand zur Big Band vom Grammophon, turnt auf der Matratze, übt sich in Müßiggang. Er probiert alles aus, wie man gehen kann, rennen, sitzen, wie am bequemsten liegen. Und die Kamera probiert mit, so beweglich ist sie selten. In seinen besten Szenen erinnert Jahrgang '45 an die Eingangssequenz von Scorseses Who's that knocking at my door: die simulierte Schlägerei auf der Straße, ein Männer -Ballett. Wäre der Titel nicht schon vergeben, für Böttchers Film träfe er zu: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Scorseses Film entstand erst zwei Jahre später.

Alfred treibt sich mit seinen Freunden herum. Sie klettern auf einen Trümmerberg, vor ihren Füßen liegen häßliche Neubaugebiete. Grashalm im Mund, Sommerfrische - ein paradiesischer Ort. Sie steigen in die Betonplatten -Hochhäuser ein, alles noch Baustelle, besichtigen die Zimmer, verteilen die Räume, einer spielt Gitarre - was kostet die Welt. Einmal sitzt Al mit zwei Freunden auf den Stufen des Französischen Doms (damals noch Ruine), sie sehen zu, wie die West-Touristen aus den Bussen steigen.

Gleichgültige Blicke hin und her, die amerikanischen Sightseeing-Frauen ziehen ihre schwarzen Sonnenbrillen aus, man beguckt sich, unauffällig und von weitem. Voyeure wie im Zoo, bloß daß die Begafften zugleich die Gaffer sind. Jede Szene ein feinsinniger Slapstick. Der rohe Primärton zerstört das Feine seltsamerweise nicht, er schärft fast die Sinne. Das Ohr wird betäubt, und die Augen gehen einem über.

Bei der Diskussion über die verbotenen Filme am Montag im Delphi wurde gefragt, ob die Filmemacher denn keinen Widerstand geleistet hätten. Böttcher erzählt von den Sitzungen mit der Partei. Sindermann regte sich auf über die Bilder an der Wand von Alfreds neuer Bleibe: „Mit Reißzwecken festgemacht, unsere Arbeiter können sich Goldrahmen leisten“. Er habe nichts gesagt, aber in seiner Nervosität und Wut mit dem Zigarettenrauch Ringe gepafft. Und er habe gesehen, wie die andern verstohlen hinguckten: Böttcher raucht Ringe. „Dann ging denen das Visier runter“. Dagegen hätten sie mit ihrer Zensur nichts ausrichten können. Er beschreibt die Sitzung wie eine Filmszene. Nach Jahrgang 45 hat Böttcher nie wieder einen Spielfilm gedreht. Auch als maler war er verboten. Er wurde Dokumentarist, gezwungenermaßen.

Christiane Peitz

Jürgen Böttcher: Jahrgang '45, Drehbuch: Klaus Poche, mit Rolf Römer, Monika hildebrandt, DDR 1966, 100 Min.

17.2. Delphi 16.30, 18.2. Arsenal 20.00

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