: Bezirke schießen quer
■ Sozialämter entziehen Flüchtlingen die Lebensgrundlage und „empfehlen“ die Heimreise / Stahmer kritisiert die Anmaßung von Kompetenzen
Die Flüchtlingsweisung von Innensenator Pätzold, eigentlich eine aufenthaltsrechtliche Verbesserung für rund 5.000 Flüchtlinge in Berlin, entpuppt sich als Bumerang. Immer mehr Flüchtlinge haben inzwischen ihre Asylanträge zurückgezogen oder gar nicht erst gestellt und gemäß der Pätzold-Weisung eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Das schützt sie zwar vorerst vor Ausreiseaufforderungen und Abschiebehaft, nicht aber vor den Berliner Sozialämtern. Diese verweigern in zunehmendem Maße die Sozialhilfe. Wer seinen Asylantrag zurückzieht, so die Logik in den Amtszimmern, ist aus wirtschaftlichen Gründen nach Berlin gekommen - ergo ein Wirtschaftsflüchtling.
Die Folgen für die Betroffenen können verheerend sein. Sie verlieren ihre Heimplätze, sind völlig mittellos, „und schlimmstenfalls läßt man sie auf offener Straße verrecken“, erklärt Traudl Vorbrodt, Vertreterin von Pax Christi im Berliner Flüchtlingsrat.
700 Akten von Flüchtlingen liegen den Sozialämtern inzwischen vor. Diese entscheiden nun per Einzelfallprüfung, wer sozialhilfeberechtigt ist - und lehnen immer häufiger ab, wie zum Beispiel das Charlottenburger Bezirksamt im Fall eines Iraners. Der hatte seinen Asylantrag zurückgezogen und gemäß der Weisung der Innenverwaltung als „Flüchtling ohne Rückkehrmöglichkeit“ eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Für das Bezirksamt Grund genug, sich die Kompetenzen einer Abschiebebehörde anzumaßen: Daß der Mann hilfebedürftig ist, stellte das Amt gar nicht in Zweifel, nur könne er diesem Zustand am schnellsten „durch Rückkehr in sein Heimatland“ abhelfen.
Ähnliche Praktiken sind inzwischen aus Neukölln, Tempelhof, Charlottenburg, Wilmersdorf, Tiergarten, Wedding und Schöneberg bekanntgeworden. Flüchtlingsorganisationen, Wohlfahrtsverbände und die Alternative Liste vermuten, daß nach anhaltendem Widerstand der Ausländerbehörde gegen rot -grüne Flüchtlingspolitik - nun einige Bezirksämter die Flüchtlingsweisung konterkarieren wollen. „Es kann nicht Aufgabe der Bezirksämter sein, die politische Situation in anderen Ländern zu beurteilen“, erklärte Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) auf Anfrage der taz. Stahmer hatte bereits vor Wochen in einem Rundschreiben an die Ämter appelliert, allen Flüchtlingen Sozialhilfe zu gewähren, die die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis haben.
In den Ämtern selbst ist man sich keiner Schuld bewußt und pocht auf das Bundessozialhilfegesetz, das eine solche Einzelfallprüfung nun mal vorschreibe. Welche Kriterien die Beamten anlegen, darüber wollte der leitende Neuköllner Fachbeamte, Joachim Glasson, „keine pauschalierenden Angaben machen“. Erst auf Anweisung der Senatorin wolle und könne man die Einzelfallüberprüfung einstellen. Daß diese kleine Kraftprobe zwischen Senat und Bezirken auf dem Rücken der Flüchtlinge ausgetragen wird, findet Glasson durchaus bedauerlich. Die Menschen, so beteuert er, täten ihm leid.
anb
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