: „Ansprüche auf Karabach kann man von beiden Seiten stellen“
Ein Gespräch mit Bert Fragner, Professor für Iranistik an der Universität Bamberg, über den Krieg im Kaukasus ■ I N T E R V I E W
taz: Heute heißt es, die Situation in Aserbaidschan habe sich beruhigt. Kannst Du Dir vorstellen, daß dieser Zustand von Dauer ist?
Bert Fragner: Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich die Ursachen der aserbaidschanisch-armenischen Auseinandersetzungen der letzten Wochen innerhalb eines Tages geändert hätten.
Aber war es in der letzten Zeit nicht eher eine Auseinandersetzung zwischen Aserbaidschanern und Sowjetregierung?
Zu einer Auseinandersetzung zwischen Aserbaidschanern und der Zentralmacht ist es in dem Moment geworden, als diese zu keinem anderen Mittel mehr greifen konnte, als Truppen einzusetzen. Die eigentlichen Konfliktpartner sind Träger von Ideologien, die lange Zeit gewissermaßen stillgelegt gewesen sind und mangels irgendwelcher anderer Programme, anderer Zukunftsvisionen für beide Regionen wieder ausgegraben worden sind.
Anfang der zwanziger Jahre gab es ja zwischen Armenien und Aserbaidschan, die für kurze Zeit selbständige Staaten waren, bereits einen bewaffneten Konflikt. Es ging um Territorien, es ging um Grenzen, es ging letzten Endes um Karabach. Die Unterwerfung der ganzen Region unter Stalins Diktat hat dann dazu geführt, daß diese Auseinandersetzungen auf dem damaligen Stand sozusagen eingefroren wurden. Während der folgenden siebzig Jahre, in der Zeit des aktiven Stalinismus wurden dann „kollektive ethische Werte“ verkündet. Man hat den Leuten abverlangt, sich dazu zu bekennen, sie wider besseres Wissen öffentlich zu verherrlichen. In der Zeit des Poststalinismus hat man den Leuten dann nicht einmal mehr diese Lippenbekenntnisse abverlangt. Das heißt, daß insbesondere in den - aus der Sicht der Zentrale peripheren - Gebieten keine übergreifende Ideologie entstehen konnte, die zu politischem Handeln, zu politischen Vorstellungen hätte führen können. Im Kaukasus sehen wir tragischerweise das Aufflackern von Konflikten, die, wie gesagt, siebzig Jahre lang auf Eis gelegen haben.
Was hat es mit dem islamischen Fundamentalismus auf sich, der dabei immer beschworen wird?
Mir scheint, von Fundamentalismus ist eigentlich wenig die Rede. Die islamische kulturelle Identität läßt sich natürlich nicht willkürlich von der nationalen Bewegung in Aserbaidschan abtrennen: Wer sich kulturell moslemisch fühlt, ist auch jederzeit in der Lage, ein tiefes religiöses Gefühl hervorzubringen. Aber zur Zeit sieht es so aus, als ob die nichtreligiösen Aspekte des aserbaidschanischen Nationalismus gegenüber islamischem oder gar fundamentalistischem Denken überwiegen.
Du meinst also, es geht in erster Linie um das Vertreiben der Armenier aus Karabach und nicht um eine Ausrichtung am Iran?
Nicht notwendigerweise. Es gibt eine Tradition des aserbaidschanischen Nationalismus. Ein Strang dieser Tradition ist seit der Jahrhundertwende überwiegend türkisch, manchmal sogar pantürkisch ausgerichtet gewesen. Zum Teil ist er gegenüber dem Panturkismus wiederum regionalistisch, weil er die Aserbaidschaner als ein Volk für sich selbst registriert. Das Ganze hat sich ideologisch heute wahrscheinlich so eingependelt, daß man die Aserbaidschaner als eine von mehreren türkischen Nationen betrachet. Das Problem ist nur: Aus dieser nationalistischen Sicht besteht natürlich ein Anspruch auf iranisches Territorium, nämlich auf jenes Gebiet, das die Aserbaidschaner selbst Südaserbaidschan nennen.
Diese Art von Nationalismus, speziell das Interesse für das iranische Territorium, ist aber kurioserweise in den dreißiger und vor allem vierziger Jahren in der Sowjetunion von höchster Stelle durchaus gefördert worden. Der aserbaidschanische Nationalismus ist ein Traditionsstrang, der die ganze Zeit in der Sowjetunion existiert hat. Analoge Tendenzen gibt es auch in Armenien: Wie schon seinerzeit die zaristischen Regierungen hat sich auch die sowjetische Zentrale jahrzehntelang darum bemüht, daß alle Armenier der Welt in der SSR Armenien ihre Heimat erblicken mögen. Der armenische Nationalismus ist insofern innerhalb der Sowjetunion, wenn auch kontrolliert, wenn auch beschnitten, immer wieder auch genährt worden.
Wenn die Entmündigung durch die Zentrale jetzt plötzlich aufhört, dann ist es nicht verwunderlich, wenn die alten und vertrauten nationalistischen Feindbilder wiederbelebt werden. Das findet jetzt statt. Nehmen wir das Beispiel Karabach: Das ist, wenn man die dortigen traditionellen Vorstellungen bedenkt, tatsächlich seit vielen Jahrhunderten als integraler Bestandteil der aserbaidschanischen Landschaft betrachtet worden. Gleichzeitig ist es aber auch eines der wirklich authentischen Siedlungsgebiete von Armeniern in der Region. Ansprüche kann man folglich von beiden Seiten stellen.
Wie siehst Du die Rolle des Iran?
Was sind die Rollen nicht nur des Iran, sondern auch der Türkei? Beide werden durch etwas angesprochen und beide werden durch die Ereignisse etwas irritiert. Iran wird dadurch irritiert, daß der nationalistische Aspekt des Aufstandes in Aserbaidschan sicherlich für das iranische Staatswesen nicht positiv ist. Wenn sich die Idee durchsetzt, die Aserbaidschaner seien eine Nation, die auch über die Grenzen nach Iran vereinigt werden muß, dann wäre ein großes, fruchtbares, relativ hoch entwickeltes Gebiet des iranischen Territoriums in seiner iranischen Identität bedroht, und das kann ein iranischer Staat nicht ohne weiteres hinnehmen. Also muß sich der Iran zurückhalten, was die nationalistische Komponente betrifft.
Ein Bestandteil des Nationalismus, ohne den das Ganze nicht auskommt, ist natürlich die Vorstellung von der traditionellen islamischen Identität. Und die kann man nicht herausnehmen. Dieser islamische Aspekt des aserbaidschanischen Nationalismus ist nicht unbedingt mit religiösem Fanatismus gleichzusetzen. Aber er bietet der islamischen Republik Iran einen Anlaß, sich in die ganze Angelegenheit auch offensiv einzumischen.
Die türkische Republik hingegen hat an den islamischen Aspekten der aserbaidschanischen Bewegung überhaupt kein Interesse. Ihre Aufmerksamkeit wird durch die übergreifenden türkischen Gesichtspunkte geweckt. Durch die Nichtaufnahme in die EG ist die Türkei ja unlängst fürs erste aus dem „europäischen Haus“ hinausgeflogen. Was sich für die Türkei anbieten würde, ist, besonders bezüglich der Außen- und Wirtschaftspolitik, mit dem Gedanken der Errichtung eines „türkischen Hauses“ zu spielen. Das mag im eigenen Land durchaus attraktiv sein. Auch hier also an etwas mitnaschen, so weit es bekömmlich erscheint.
Siehst Du irgendeine Möglichkeit, daß die Konflikte in der nächsten Zeit beigelegt werden können?
Ich bin da nicht sehr optimistisch. Worauf man hoffen kann, das ist die Ermüdung, die Neigung der Menschen zum Pragmatismus. Es könnte aber auch sein, daß dieser ganze Konflikt weiterschwelt - er kommt ja auch nicht richtig zum Ausbruch.
Der Einmarsch der Sowjetarmee war ja wohl ein eher hilfloses Unternehmen der Zentralgewalt. Aus Moskauer Sicht hat das Problem natürlich eine ganz andere Dimension. Für die ist wichtig, daß die Perestroika weitergeführt wird, und die wird durch solche Ereignisse sehr gefährdet. Aber das ist den Menschen zwischen Baku und Eriwan gleichgültig. Die sind zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten in der Lage, zu sagen: Was gehen uns die Probleme der Leute in Moskau an jetzt beschäftigen wir uns mit den eigenen. Das ist ja das Tragische, daß diese furchtbaren Auseinandersetzungen im Kern auch eine befreiende Wirkung haben - gegenüber einem System, das die eigene Entwicklung zu lange behindert hat.
Die taz veröffentlichte vor kurzem ein Interview, in dem ein Aserbaidschaner die Meinung vertrat, auf die Dauer werde es eine Auseinandersetzung zwischen einem islamischen und einem christlichen Teil der Sowjetunion geben. Was hältst Du von dieser These?
Ich glaube nicht, daß die Masse der Aserbaidschaner, die jetzt demonstrieren, tatsächlich so weit denkt. Solche Konzepte werden häufig in einer Art publizistischer Zuspitzung geäußert. Wir haben bis jetzt nicht gehört, daß derartige Thesen zur Massenmobilisierung eingesetzt werden. Auszuschließen ist aber eigentlich nichts. Manes Sperber hat einmal gesagt, man soll nie sagen, schlechter kann's nicht werden - es ist zu oft immer noch schlechter geworden. Es läßt sich abschätzen, daß es zu einer fürchterlichen Katastrophe führen könnte, wenn solche Konzeptionen sich durchsetzen.
Das Gespräch führte Antje Bauer
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