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Ibrahim Böhme for president?

■ Der Aufstieg eines „alternativen Marxisten“ zum Chef der DDR-SPD / Zusehends beugt sich Ibrahim Böhme sozialdemokratischer Parteivernunft / „Der Erfolg stellt sich ein, das Glück bleibt auf der Strecke“ / Ein Wahlkämpfer ohne Charisma

Petra Bornhöft

Die Versammlung der dreitausend in der Erlöserkirche am Vorabend des DDR-Begräbnisses ist sich uneins. Soll jetzt wirklich eine neue Partei gegründet werden? Inhaltlich verwandt, persönlich befreundet, füllen die Oppositionsgrüppchen die Gotteshäuser. 24 Stunden nach jenem Podiumsgespräch unter dem Titel „Zukunftswerkstatt“ bemächtigen sich SED und FDJ ein letztes Mal der Straßen und Paläste der Republik. Brutaler und gespenstischer Abschied von der Macht.

Zur gleichen Zeit begrüßt Ibrahim Böhme in einem gelb getünchten Kirchenraum des Dorfes Schwante 43 Männer und Frauen und nimmt den Faden vom Vorabend auf: „Wir sagen, ja, es ist notwendig, sich gerade jetzt inhaltlich und strukturell verbindlicher zu zeigen als bisher. Wir müssen um Zielvorstellungen und Sachkompetenz ringen, um morgen in einem Dialog als Gesprächspartner der Bevölkerung etwas sagen zu können.“ Holprige Sätze ohne programmatische Aussage und Beifall, aber die Analyse zu Beginn der konspirativen Gründungsversammlung der Sozialdemokratischen Partei der DDR am 7.Oktober stimmt.

Auch dies ein Abschied, doch bewußt und weg von der Machtlosigkeit. Wenn der amtierende, nicht gewählte SPD-Chef heute die Geburtsstunde der vier Monate alten Partei als „Wunder von Schwante“ beschreibt, so ist das eine der für Böhme typischen Mystifizierungen.

In Schwante hält nicht der Mann in der weißen Sportjacke inzwischen zeigt sich der Parteigründer ausnahmslos im schwarzen Anzug mit Weste - die „programmatische Rede“. Landpfarrer Markus Meckel übernimmt das: „Wir wollen genau das, was in der Vision des Sozialismus ausgesprochen ist: ein gerechtes und soziales Gemeinwesen (...) in einer nichtkapitalistischen DDR.“

Lang ist's her. Mit der „Situation“ hat sich die Perspektive verändert. Futsch ist die traute Einheit unter den Kinderzeichnungen des Saales in Schwante. Kurz vor dem ersten ordentlichen Parteitag der SPD diese Woche in Leipzig ist hinter den Kulissen der „Führungsstreit“ um Spitzenkandidatur und Parteivorsitz ausgebrochen. Begehrlich schiebt Meckel, offenbar von den West-Genossen favorisiert, seinen Rauschebart nach vorn. Böhme hat sich indessen als Ministerpräsidentenkandidat ins Spiel gebracht. Während Meckel wie ein glatter, cooler Profi agiert, stolpert Böhme über die Brüche seiner Biographie hin zu sozialdemokratischem Pragmatismus.

Von Anfang an:

Rätsel und Widersprüche

Schien es bisher unbestritten, Böhme sei Jahrgang 1948, so zitiert der 'Spiegel‘ den leicht Ergrauten jetzt als „vermutlich 1944 bei Leipzig“ Geborenen. Nach dem Tod des Vaters heiratet die Mutter wieder und stirbt, ohne daß der Sohn sie bewußt wahrgenommen hätte. Vom Stiefvater in einem Kinderheim untergebracht, wechselt „Manfred“ mehrfach die Heime. Den Namen Ibrahim nimmt er später an, „weil der zu einem Juden, Moslem oder Christen paßt“.

Daß seine Eltern wahrscheinlich Juden waren, „hat man mir irgendwann erzählt“, sagt Böhme. Ein kurzes Flackern in den Augen und ein Griff zur nächsten Zigarette. Jemand ist ins Zimmer getreten, greift einen Mantel, geht und läßt die Tür offenstehen. „Was denkt der sich, wer hier sitzt?“ springt Böhme auf, schließt die Tür zum Flur des Westberliner Reichstages - und das komplizierte Kapitel. Als ob er sich und anderen nicht gestatte, darüber nachzudenken, ob ein Jude in Deutschland Ministerpräsident werden kann.

Viel lieber erinnert der Mann, der gegenwärtig durch die Hauptstädte Europas jettet, daran, daß er als Schüler Kohlen geschleppt und Rüben verzogen hat, um „die 25 Pfennig für die Kinovorstellung im Jugendklub zu verdienen“. Besonders unangenehm haftet im Gedächtnis der Geldmangel: „In puncto Kleidung war ich schon immer eitel, und wir kriegten nur gräßliches Zeug zum Anziehen.“

Nach der zehnten Klasse zieht Böhme ins Lehrlingsheim Leuna. In der Abendschule schläft der Maurerlehrling oft ein. Seine Leistungen sind trotzdem glänzend. So glänzend, daß die SED-Bürgen bei dem 17jährigen ein Auge zudrücken und er ein Jahr früher als üblich der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands beitreten darf.

„Meine Lehrer und Heimerzieher, alles Kommunisten, haben mich geprägt.“ Dazu steht der SPD-Wahlkämpfer und setzt hinzu: „Vor allem Toleranz gegenüber Andersdenkenden habe ich bei ihnen gelernt.“ Wegen dieser Tugend aber eckt Böhme schon 1967 an. Auf einer „Parteiaktivtagung“ widerspricht er dem SED-Ausschluß des „Renegaten Robert Havemann“, verlangt für ihn die Möglichkeit der Verteidigung. Havemann fliegt, Böhme wird zum Kadergespräch zitiert. Der mittlerweile zum Heimerzieher und Lehrer Avancierte verliert die Prämie. Parteiausschluß und „Bewährung in der Produktion“ entgeht er durch Sympathiekundgebungen seiner Kollegen und Schüler. Die verschaffen ihm einen Job in einer Bibliothek.

Parteiauftrag in Sachsen

Von sich aus die Partei zu verlassen kommt ihm nicht in den Sinn. „Ich dachte, man könnte die Partei von innen aufbrechen und reformieren.“ Seine politische Richtung findet Böhme in CSSR-Zeitungen. „Ich war sofort Dubcek -Anhänger. Nur mit Pluralität ist ein demokratischer Sozialismus zu verwirklichen.“ Wie viele andere bringt ihn diese Ansicht nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die CSSR 1968 „für kurze Zeit“ ins Gefängnis. Wieder verläßt er die Partei nicht, noch schmeißt man ihn raus. Im Gegenteil, wenige Monate später „wurde ich rehabilitiert“.

Er fängt bei der Post als Abpacker an. Dort beginnt der notorisch Lernhungrige eine Art Fernstudium im Fach Nachrichtenwesen, steigt auf zum Post-Abteilungsleiter. Irgendwie muß der Postminister von dem organisatorischen Geschick des jungen Mannes bei der „Rationalisierung und Umstrukturierung unserer Arbeit“ Wind bekommen haben. Eines Tages, so berichtet Böhme nicht ohne Stolz, „hat der mich per Handschlag nach Berlin geholt und zum Oberinspektor gemacht“. Pfeilschnell zählt der Aufsteiger die übersprungenen Beförderungsstufen auf, schätzungsweise zehn an der Zahl.

Neben der beruflichen und Parteiarbeit in Berlin nimmt Böhme ein neues Fernstudium auf. Diesmal Bibliothekswissenschaft mit dem Schwerpunkt Literaturästhetik und Philosophie. Schon fast auf dem Wege an die Karl-Marx-Universität Leipzig - „da wollte ich promovieren“ - ereilt den Verantwortungsbewußten ein „Parteiauftrag“. Die SED-Kader „sagten mir, Mensch, die Kreisorganisation des Kulturbundes da unten liegt am Boden. Du bist der richtige, sie wieder aufzubauen.“ Das reizt Böhme ungemein, zumal die Partei ihm schmeichelt, er sei „der jüngste Kreissekretär der Republik“.

Beflügelt von der zaghaften Liberalisierung zu Beginn der Honecker-Ära Anfang der 70er Jahre, organisiert Genosse Böhme im Greitzer Kulturhaus und Kulturbund Lesungen und Diskussionen, holt namhafte Intellektuelle in die südliche Provinz. 1974 endet die Tauwetterperiode. Stalinistischer Frost ist in der DDR angesagt.

Dennoch hält Böhme seine schützende Hand über nicht genehme Literaturzirkel, läßt verbotene Schriftsteller auftreten. Er gründet „weltanschauliche Gesprächskreise“, in denen über Adam Schaff und Roger Garaudy diskutiert wird. „Wir begannen mit dem christlich-marxistischen Dialog.“ Zusehends schwindet der Glaube an die Reformierbarkeit der Partei. Die Ausbürgerung Biermanns 1976 setzt den Schlußpunkt unter die erste politische Sozialisation. Es folgen SED-Austritt, Arbeitslosigkeit, dann der Job in einer Konservenfabrik. Die Partei tritt übel nach. „Ohne Begründung“ wird Böhme 1977 verhaftet und sitzt fünfzehn Monate in Untersuchungshaft.

Bei dem Gedanken an diese „schlimme Phase“, nach der die Ehe kaputt und später auch der Kontakt zur Tochter verlorengeht, bricht der Redefluß ab. Böhme streicht sich mit der Hand über Augen und Gesicht. Sofort darauf nestelt er am grau-weißen Schlips, zieht die Weste straff. Mit verschachtelten Sätzen, in denen der Anfang nicht zum Ende paßt, hastet Böhme weiter durch seine Geschichte. „Entschuldige, aber Klaus von Dohnanyi wartet, und Jochen Ehmke will auch noch was.“ Der hatte ihm doch gerade auf dem Gang zugeflüstert, er werde sich um die Termine in Washington und Moskau kümmern. Warum also permanent dieser gehetzte Blick auf die Uhr?

Keine Antwort. Zurück in die Vorzeit, die Phase der intellektuellen Fortbildung Anfang der 80er Jahre. Geschichte und Theaterwissenschaften studiert Böhme. Mit einer Solidaritätskundgebung für Solidarnosc endet 1981 seine Gastdramaturgie am Theater in Neustrelitz: Endgültiges Berufsverbot im Honecker-Sozialismus, an dessen „Visionen und Theoremen“ der Ausgestoßene beharrlich festhält. Fortan schlägt er sich durch als Koch, Sägewerksarbeiter, Nachhilfelehrer, nähert sich vorsichtig der konspirativen Friedens- und Menschenrechtsbewegung in den Gotteshäusern. Philosophierende Pfarrer bitten den marxistischen Atheisten zur „Sofarunde bei Pfarrer Hilsberg“.

Der SPD-Vorstand

lernt sich kennen

Die „Sofarunde“, ursprünglich ein reiner Theologentreff, bildet Teilnehmer Wolfgang Templin zufolge den „Vorläufer für die SPD“. Tatsächlich treffen sich in den Berliner und Landpfarreien unter anderem die heutigen Vorständler und Pfarrer Markus Meckel und Martin Gutzeit. Hilsbergs Sohn hat es zum Parteisprecher geschafft. Weitgehend unbehelligt von der Stasi, disputiert der Kreis mehrere Wochenenden im Jahr über Hegel, Lukacs, Benjamin. Templin (Initiative Frieden und Menschenrechte) schildert den Neuen in der geruhsamen Runde als „scheuen Gast, der nie systematisch über sich erzählte und immer schnell weg war“.

Das Persönlich-Politische steht ohnehin in der DDR -Opposition selten zur Debatte, im Wahlkampf der alten Bekannten noch weniger. In der Sofarunde - weit entfernt „von dem Zwang, unsere Ansprüche in Tagespolitik umzusetzen“ - lernt Templin Ibrahim schätzen als „Marxisten mit humanistischem Wertehorizont, der sich nicht auf sozialdemokratische Vernunft reduzieren läßt“.

Ausdrücklich begreift sich SPD-Geschäftsführer Böhme als „alternativer Marxist“. Auf der Delegiertenkonferenz im Januar zählt er die „marxistische Kritik an den sozialökonomischen Zuständen“ zu den „Quellen der Sozialdemokratie in der DDR“. Eindringlich beschwört er die Parteibasis: „Laßt uns so utopiezugänglich sein, daß wir die Träume aller unserer Menschen aufnehmen können in einen Katalog praktischer politischer Vernunft.“ Wie, wenn nicht bloß in Form moralischer Appelle, kommen (linke) Utopien und Träume in der angehenden Regierungspartei zum Tragen? Böhme weicht der Antwort mit der Formel vom „Platz für alle Strömungen in einer modernen Volkspartei“ aus und fingert emsig die nächste Zigarette aus der Packung.

Manchmal scheint es, als habe Böhme aus der Zeit seines Engagements in der Initiative Frieden und Menschenrechte (seit 1986 parallel zur „Sofarunde“) vor allem seine Leidenschaft fürs Kochen und Abwaschen im Kopf behalten. Davon erzählt er sogar in der Ostberliner Volksbühne vor millionenfachem Fernsehpublikum und 18 Führern sozialdemokratischer Parteien in Europa. Hans-Jochen Vogel verzieht dabei keine Miene. Solch profane Schlenker in die Vergangenheit vor der internationalen Prominenz findet der Bonner Profi offenbar dem Ereignis unangemessen. Für Böhme hingegen ist es typisch. Er spielt seine neue Rolle zwar gut, aber niemals so aalglatt und sterbenslangweilig wie die westdeutschen Vortänzer.

Jene Akteure auf der politischen Bühne, die seit geraumer Zeit klettenartig an seinen Fersen kleben, wollen noch im August vergangenen Jahres nichts von dem „klassischen Reformkommunisten“ (Jürgen Fuchs) und der gerade gegründeten Initiativgruppe für eine sozialdemokratische Partei wissen. West-Berlins Schlaumeier Momper analysiert nämlich, mit „Parteigründungen durch kleine Gruppen“ könne „gar nichts bewegt werden“. Böhme ist klüger und behält recht.

Endlich „handlungsfähig“

und einflußreich

Kaum einer seiner damaligen Aktivistenfreunde und jetzigen Nachbarn am Runden Tisch - wo er wegen „internationaler Verpflichtungen“ oder politischer Kursbestimmung in der Bonner Baracke immer seltener erscheint - begreift die politische Entwicklung des früheren Weggefährten. Manche, die mit ihm auf dem konspirativen Böhlener Gründungstreffen der Vereinigten Linken im September noch „politisch konform“ sind, bezweifeln Böhmes sozialdemokratische Gesinnung.

Westliche Beobachter hingegen vergleichen ihn mit Kanzlerkandidat Lafontaine: Bei beiden Politikern ist die Bindung an das traditionelle, vorherrschende Gedankengut der SPD schwach ausgeprägt. Den Positionen der Grünen näherstehend als „denen der Sozialdemokratie der 70er Jahre“, so Böhme kurz nach dem Honecker-Sturz im Oktober, gibt er doch der SPD den Vorzug. Nach 20 Jahren politischen Frustes in Partei und Opposition will er „handlungsfähig“ und einflußreich werden. Trotz „aller historischen Belastung in Mitteleuropa“ entscheidet sich Böhme für die Sozialdemokratie, weil sie „attraktive programmatische Grundsätze und nicht zuletzt so etwas wie politische Pragmatik verbindet“. Den Wunsch nach Handlungsfähigkeit und politischem Einfluß kritisieren einstige Weggefährten heftig. Wütend mokiert sich Bärbel Bohley - wie viele andere oppositionell in einer basisdemokratischen Kleinfamilie politisch sozialisiert - über „demokratische Mißgeburten aus den eigenen Reihen, die jahrelang gegen Autorität von oben und Demokratie von unten gekämpft haben und nach dem ersten Zipfel Freiheit wahnsinnige Apparate aufbauen“. Bohleys schroffe Kritik, Böhme sei „dem Machtrausch verfallen“, unterschlägt dessen Biographie, politischen Verstand und sein Gespür für das aufziehende Chaos in dem DDR -Trümmerhaufen des letzten Herbstes.

Zweifel an der gerühmten Klugheit des Historikers betreffen aber gleichwohl sein Projekt Sozialdemokratie, mit dem er der DDR eine neue, sozialistische Perspektive eröffnen will. Spätestens auf der ersten Delegiertenkonferenz im Januar offenbaren heimische Basis und Bonner Parteiprominenz ihrem nichtgewählten Geschäftsführer Böhme, daß mit einer SPD keine Experimente zu machen sind. Sympathisch quer stemmt sich der Anhänger der Zweistaatlichkeit gegen die Stimmung, verlangt den Zusatz DDR im Parteinamen. Vergeblich, der Einheitszug rast. Und Böhme steigt nicht aus. Selbst in dem Moment nicht, als das im Oktober geschlossene Wahlbündnis der Opposition aufgekündigt wird.

Unablässig schwört er danach den Zurückgebliebenen die Treue, er hängt an diesen Menschen. Und umgekehrt. Bei der Gründungsversammlung der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt am 20.Januar hält Böhme die erste Trauerrede auf den „schweren Abschied aus der in der Illegalität gewachsenen Gemeinschaftlichkeit“. Ein Freund aus der „Sofarunde“ kämpft mit den Tränen. Vielen, auch dem Redner, scheint der Kloß im Hals zu stecken. „Jetzt können wir nicht mehr fragen, was wir tun wollen und können, sondern was wir tun müssen.“ Trauer und staatstragende Opferbereitschaft wirken im muffigen Speisesaal des Ostberliner VEB-Sternradio echt, produzieren Mitgefühl, erzielen Verständnis für die Zeitknappheit des Gastes. Fortan gehört der Satz zum Repertoire des Redners, kippt um in Rhetorik.

„Der hat's begriffen“

Beim Bezirksparteitag der Ostberliner SPD reißen solche Sätze niemanden vom Stuhl - das hat der Nadelstreifen -Wahlkämpfer nirgends geschafft. Die Attacke gegen Kohls „unerträgliche Wahlkampfeinmischung“ wegen vermeintlicher SED-Unterwanderung der SPD bringt eine Agenturmeldung. Da klopft der Hinterbänkler Dietrich Stobbe (MdB) dem Jungsozi in der Pause auf die Schulter und erklärt den Journalisten: „Der hat's begriffen.“ Verkniffen lächelt der DDR -Sozialdemokrat. Schweigt.

Wie lange will er noch weismachen, er fühle weder sich noch seine Partei vereinnahmt von diesen Heuschrecken aus Bonn? Sogar eine energische Sekretärin und Klarsichthüllen für die Türschilder in der Ostberliner Parteizentrale hat die Bonner Baracke expediert. Böhme wehrt sich immer weniger. Wie lange kann man sich wehren, wenn Mitterrand, Prinz Claus aus den Niederlanden, EG-Kommissionär Jacques Delors, der mexikanische Außenminister, Bundesbankchef Pöhl sich in die Kette der „Frühstücksgelage“ (Bohley) und abendlichen Diners einreihen? Kein Zweifel, der Aufstieg aus dem verfallenen DDR-Ambiente seines heimischen Kiezes am Prenzlauer Berg gefällt dem Shooting-Star.

Besser zwei Anzüge

als ein Vollbart

Unsicherheiten gegenüber alten Freunden und Bekannten überspielt er mit Herzlichkeit und Charme. Bei der Stippvisite im heimatlichen Kiez - nach zum Teil offen antisemitisch begründeten Bombendrohungen hat Böhme Personenschutz und wechselnde Nachtquartiere - trägt er den früheren Nachbarn die Kohlen oder das Einkaufsnetz die Treppe hoch. Ex-Aktivistinnen und Noch-Partnerinnen am Runden Tisch überrascht der Galan mit Umarmungen, Handküssen und roten Rosen. Die jugoslawische Garderobenfrau im Reichstag fragt er - ernst gemeint - nach ihrem Wohlbefinden. Voll des Lobes ist der alte kommunistische Hausmeister in der Parteizentrale, in der die PDS vier von sechs Etagen bewohnt: „Ein netter Mann, wenn er nur im Fernsehen nicht immer so steif wäre.“

Volltreffer. Werden die erprobten westdeutschen Wahlkampfmanager den von Termin zu Termin Hechelnden noch etwas aufpeppen? Oder entscheiden sie sich für Markus Meckel als Spitzenkandidaten? Schwerlich. Böhme besitzt zwar wenig Ausstrahlungskraft, aber mindestens zwei schwarze Anzüge. Das kommt beim DDR-Bürger besser an als ein Vollbart über Sakko ohne Schlips. Für eine flinke Anpassung an sozialdemokratische Machtpolitik spricht auch Böhmes Coup mit dem vorgezogenen Wahltermin. International registriert ist er wie kein anderer DDR-Sozi. Zudem verfügt Böhme, im Gegensatz zu Meckel, über Ansehen in der Restopposition. Sie rechnet es ihm hoch an, daß er - als einziger SPDler - offen für eine Koalition mit linken oder basisdemokratischen Gruppen wirbt, auch bei einer absoluten SPD-Mehrheit.

Böhme selbst äußerst sich neuerdings zurückhaltender, demonstriert Opferbereitschaft für Partei und Staat; raunt einem Glück und Erfolg rufenden Eurosozialisten nach: „Der Erfolg stellt sich von selbst ein, das Glück bleibt dabei auf der Strecke.“ Nicht gerade unglücklich steigt er in den dunklen Schlitten mit Fahrtziel Nobelrestaurant Berlin -Dahlem.

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