: Der schmerzliche Weg der PDS
■ Interview mit Andre Brie, dem Wahlkampfleiter der PDS, über den Zustand seiner Partei, ihre Perspektiven in einem vereinigten Deutschland, das Scheitern des realen Sozialismus und die basisdemokratische Kultur der Heterogenität
Der Wahlkampfleiter der PDS (vormals SED), Andre Brie (39), ist ein leiser, nachdenklicher Mensch, bei dem man sich gut vorstellen kann, daß er - eines seiner Hobbies Kinderbücher schreibt. Daß er zugleich auch Autor von Kabarett-Texten ist, darauf wäre man nicht gekommen. Hauptberuflich ist er Dozent am Institut für Internationale Beziehungen in Potsdam, zuständig für Europäische Fragen der Sicherheit. Brie hatte mit der Partei, der er seit seinem 18.Lebensjahr angehört, seine Schwierigkeiten. Kritik am Verbot des sowjetischen 'Sputnik‘ führte zum Ausschluß aus der Institutsparteileitung. Er war - gemeinsam mit seinem Bruder Michael Brie - als Mitglied des Forschungsprojektes „Moderne Sozialismuskonzeption“ einer der reformerischen Vordenker in der SED. Ihn jetzt in dem repräsentativen Büro im ehemaligen ZK-Gebäude der SED - nun „Haus des Parteivorstandes“ - residieren zu sehen, mutet etwas merkwürdig an.
taz: Wie sind Sie zu dem wenig attraktiven Posten eines Wahlkampfleiters der PDS gekommen?
Andre Brie: Ich hatte Gregor Gysi anbieten lassen, daß ich im Wahlkampf zur Verfügung stehe, und er hat nicht den kleinen Finger, sondern den ganzen Mann genommen. Mein Motiv war hauptsächlich, daß ich der Meinung bin, daß für eine linke Bewegung in der DDR und später mal in Deutschland die PDS überleben muß bzw. zumindest eine möglichst kompetente und starke Volkskammerfraktion zustande bringen muß, um die herum sich eine erneuernde Linke gruppieren kann. Ich habe die Befürchtung, daß alles, was außerhalb der PDS entsteht so sehr ich mir auch der Problematik der PDS aus der SED heraus bewußt bin - zersplittert und zu lauter intellektuellen und sektiererischen Grüppchen führt, die letzten Endes keine Politik machen werden. Die PDS hätte man im Dezember - wenn man das sehr bewußt und im Konsens gemacht hätte - auflösen und etwas Neues gründen können. Das ist heute einfach nicht mehr möglich. Das hat sich bei den Diskussionen im Januar gezeigt. Überall dort, wo Bezirksvorstände zurückgetreten sind, ist die PDS sofort spontan wiedergegründet worden.
Und ich meine insgesamt: Keiner in diesem Land, auch nicht wenn er zur SPD geht, kann den sehr schmerzhaften Weg vermeiden, seine eigene Vergangenheit zu bewältigen. Die Linken in diesem Lande waren fast zu 100 Prozent einmal in der SED. Sie müssen sich dazu bekennen, daß sie damit Mitverantwortung haben, so kritisch sie im Einzelfall auch gewesen sein mögen. Man hätte aus dieser Partei spätestens 1985, als die Haltung zu Gorbatschow deutlich wurde, austreten müssen. Das haben sie fast alle nicht gemacht. Diese Vergangenheitsbewältigung oder - wie man in der Kirche sagt - Trauerarbeit muß man in der PDS genauso machen wie frühere Genossen, die jetzt bei der SPD sind oder die neue Gruppierungen gegründet haben.
Keine Stunde Null für die DDR-Linke
Wer glaubt, er könne mit Stunde Null anfangen, begeht einen verhängnisvollen Fehler, der sich bald rächen wird. Diese Vergangenheit hat man anzunehmen - egal, wo man bleibt. Ich sehe sogar in der PDS die besten Möglichkeiten, sich sehr konsequent, entschieden mit dieser Vergangenheit auseinanderzusetzen, gerade weil dort die Mentalität, nun bin ich woanders, nun bin ich rein von dieser Vergangenheit, gar nicht erst aufkommen kann.
Andererseits schlägt sowohl der PDS als Institution wie auch den PDS-Mitgliedern stellenweise geradezu Haß entgegen. Unter diesen Bedingungen ist es doch ungeheuer schwer, auch nur ein vernünftiges Gespräch zu führen.
Das ist zum Teil richtig, scheint sich aber in den letzten Tagen oder zwei Wochen auch zu verändern. Einmal, weil erste Anzeichen für die Bevölkerung deutlich werden, daß wir es ernst meinen mit der Trennung von SED-Politik, von SED -Leuten, von SED-Eigentum, von SED-Macht- und Monopolpositionen in diesem Land. Das ist allerdings nicht das ausschlaggebende. Wichtiger ist, daß allmählich deutlicher wird, daß es hier auch einiges zu verlieren gibt: soziale, politische, rechtliche Leistungen und Errungenschaften. Da entsteht ein Anknüpfungspunkt, um miteinander ins Gespräch zu kommen, weil die PDS sich sehr stark für das Einbringen solcher Dinge in den deutschen Einigungsprozeß engagiert. Viele Menschen differenzieren wieder stärker hinsichtlich der Vergangenheit. Aus allen Bezirken hört man, daß in Diskussionsveranstaltungen der sachliche, argumentative Charakter der Auseinandersetzung auch uns gegenüber zunimmt.
Gysi als Oppositionsführer in der neuen Volkskammer
Ihre Partei befindet sich in einer paradoxen Situation: Wahlkampf heißt Kampf um politische Macht. Nun ist von allen Parteien und Vereinigungen, die am 18.März antreten werden, bei einer einzigen klar, daß sie nicht in der künftigen Regierung vertreten sein wird: der PDS. Für welches Ziel kämpfen Sie?
Wir gehen davon aus, daß wir in die Opposition gehen und auch in die Opposition gehen müssen und wollen. Das ist das Beste, was der Partei selbst passieren kann. Ich habe auch den Eindruck, daß Gregor Gysi sich in der Vorstellung gefällt, Oppositionsführer zu werden. Ich halte das für ein nicht geringes Wahlziel. Es wird unter den Bedingungen, wie sie sich in diesem Land herausbilden, möglich sein, aus der Opposition heraus Politik zu machen und Regierungspolitik zu beeinflußen. Es ist wirklich kein Verdienst der PDS, daß sie zur Zeit die einzige Partei ist, die relativ unabhängig handeln kann, unabhängig von der Stimmung auf der Straße. Sie kann im Interesse aller Vernunft einbringen in den Einigungsprozeß, in die Regierungsentscheidungen. Sie kann gegenhalten und damit auch ein Korrektiv für andere sein. Voraussetzung ist natürlich, daß auch wirklich eine fachlich kompetente, politische integre Volkskammerfraktion dieser Partei zustande kommt, die auf neuen inhaltlichen Positionen des demokratischen Sozialismus steht.
Stellt die PDS gegenwärtig in diesem Land noch den Regierungschef?
Meiner Meinung nach ist die Regierung seit dem Außerordentlichen Parteitag (der SED/PDS Mitte Dezember 1989, d.Red.) unabhängig von Parteien geworden, insbesondere auch von unserer Partei. Das geht bis dahin, daß zu wichtigen Regierungsbeschlüssen oder auch Erklärungen, die von Modrow selbst kommen...
Sie meinen beispielsweise die Konzeption „Deutschland, einig Vaterland“?
...ja, die Information erst im nachhinein an Gregor Gysi oder andere Leute dieser Partei geht. Ich halte das angesichts der Situation in der DDR, des Kräfteverhältnisses in der DDR, auch für richtig. Diese Regierung muß - so weit das überhaupt geht - parteipolitisch unabhängig sein. Sie muß Nähe zu allen Parteien vermeiden, sonst wäre sie längst kaputtgegangen.
Wie ist der Zustand Ihrer Partei? Wie groß ist derzeit die Mitgliederzahl?
Wir gehen davon aus, daß es zur Zeit 700.000 sind, aber daß die Zahl weiter runtergehen wird. Wir denken, daß wir uns etwa in einer Größenordnung von 500.000 stabilisieren können. Das ist einfach deshalb schwer zu beantworten, weil eine grundlegende Umstrukturierung der Partei stattfindet. Die Betriebsorganisationen sind zum größten Teil aufgelöst, und die Mitglieder unserer Partei müssen sich nun neu anmelden. Wir werden einen Überblick haben, wenn die neuen Mitgliedskarten ausgegeben sind, das geschieht in diesen Tagen.
Junge Leute und treue Genossen in der Partei
Aber diese Zahl allein - die ja für die DDR noch sehr groß ist - sagt nichts über den Zustand der Partei aus. Wir haben zwei unterschiedliche Tendenzen: einerseits ziemlich viel Resignation und Passivität, zum anderen seit Ende Januar eine ganz starke Bewegung, vor allem von jungen Leuten, die die PDS bewahren wollen und die PDS neu organisieren.
Ich denke, daß wir noch einen Haufen von Leuten haben, die in dieser Partei immer noch eine Rückversicherung sehen oder einen Garanten für alte Verhältnisse. Die sind zum Teil sehr treu. Man kann das abstrakt sehr leicht sagen, aber wir wollen sie nicht einfach so generell vor den Kopf stoßen. Es sind viele ehrliche Leute mit tiefen Überzeugungen, mit denen man auch arbeiten kann, aber hier wird es insgesamt problematisch. Diese Partei kann man in ihrer Programmatik, ihrem Statut, ihrer Struktur und ihren Persönlichkeiten schnell verändern, aber das Denken, Handeln, Empfinden der Leute läßt sich sicherlich nur in vielen Monaten oder ehrlicherweise gesagt - in Jahren verändern. Da braucht man auch Geduld.
Sie sprachen davon, daß die PDS Ende Januar einen neuen Aktivitätsschub bekommen hat.
Auf dem Tief des Berghofer-Austritts und der Auflösungsdiskussion.
Als Gegenreaktion?
Als Gegenreaktion - ganz massiv.
Sind da auch neue Leute in Ihre Partei eingetreten?
Es sind auch neue Leute in die Partei eingetreten. Ich kenne die Zahl aus der gesamten DDR nicht, aber in Berlin sind Ende Januar 24 junge Leute beigetreten.
In welchem Zustand befindet sich der Apparat Ihrer Partei?
Hier im Haus (des Parteivorstandes - WS) ist der Apparat zahlenmäßig um 60 Prozent reduziert worden. Gleichzeitig ist bei diesen verbleibenden 40 Prozent eine bestimmte Erneuerung eingetreten. Wir haben einige gute junge Leute, allerdings viel zuwenig. In den Kreisen und Bezirken haben wir den Apparat um 80 bis 90 Prozent abgebaut. Bei den verbleibenden 10 bis 20 Prozent besteht das Gros bei den politischen Mitarbeitern aus neuen Leuten, bei den technischen Mitarbeitern sieht es anders aus, aber das ist sowieso nicht das Problem. Dieses riesige Parteivermögen, das ja ein Imperium war, ein riesiges Monopol, wo es in der Vergangenheit oft gereicht hat, daß einer den Telefonhörer abgenommen hat, und dann gehörte ein Betrieb wieder der Partei, wo es nicht einmal Dokumente gibt, all das muß jetzt abgewickelt werden. Das kann diesem Präsidium (der PDS) auch keiner abnehmen. Das ist lähmend. Den ganzen Januar über war das die Hauptarbeit des Präsidiums dieser Partei. In den letzten zwei, drei Wochen konnte es sich endlich auch politischer Arbeit zuwenden.
SED-Apparat besteht nicht mehr
Insgesamt meine ich, daß der alte SED-Apparat nicht mehr existiert, was auch eine ungeheuer komplizierte Frage ist, weil da viel Tragik, menschliche Schicksale daran hängen, viele dieser Leute einfach keine Arbeit finden. Wir haben ja viele, gerade von den führenden Leuten auch ausgeschlossen. Trotzdem kann der Weg dieser Partei nicht der zu einer Partei der Rache oder der Unzivilisiertheit sein.
An dem Außerordentlichen Parteitag im Dezember hatte mich gestört, daß die alte Führung bereits ausgeschlossen war, zum großen Teil bereits im Knast saß und deshalb die politische Auseinandersetzung nicht mit ihnen geführt wurde.
Auf die ganze Knastfrage hat die Partei gar keinen Einfluß mehr. Die Justiz, die Staatsanwälte bei uns, die früher die ärgsten Verfolger jedes Dissidenten oder auch nur scheinbaren Dissidenten waren, versuchen sich jetzt reinzuwaschen, indem sie ins andere Extrem fallen. Aber darauf gibt es keinerlei Einfluß (von seiten der PDS - WS). Selbst die Regierung hat darauf fast keinen Einfluß. Mit diesem Extremismus bildet sich die Unabhängigkeit der Justiz heraus.
Was könnten die Perspektiven der PDS in einem gesamtdeutschen Staat sein, der ja schneller kommen könnte, als wir das noch vor kurzer Zeit gedacht haben?
Der Beschluß über die Vereinigung kann schnell gefaßt werden, aber die Realisierung dieses Beschlusses kann nicht so schnell passieren. Diese beiden Staaten und Gesellschaften sind nach meiner Überzeugung zur Zeit gar nicht kompatibel. Da braucht man gesellschaftliche Veränderungen. Aber vielleicht ist das auch nur die Stimme der Vernunft, während - da muß ich Ihnen natürlich recht geben - sich zur Zeit andere Dinge als Vernunft durchsetzen. Was dann aber selbst für diejenigen, die eine schnelle Vereinigung wollen, negativ verlaufen wird.
Renaissance linker Politik
Zur Zukunft der PDS kann ich Ihnen nur meine eigene Meinung sagen. Ich glaube, daß auch ein vereinigtes Deutschland und die zukünftige europäische Entwicklung unbedingt einflußreiche Linkskräfte braucht. Sozialistisches Denken und das betrifft natürlich nicht nur die PDS, sondern damit werden alle anderen genauso zu tun haben - ist gegenwärtig diskreditiert. Aber ich denke, angesichts der tiefen und radikalen gesellschaftlichen Umbrüche, die überall passieren, wird linkes, sozialistisches Denken, linke, sozialistische Politik für die Gesellschaften von größter Bedeutung sein und meiner Meinung nach auch in relativ kurzer Zeit eine Renaissance erfahren. Ich denke an soziale Veränderungen, die Individualisierung von Gesellschaft, die riesige Herausforderung durch die ökologische Krise, den extremen Konfliktstoff zwischen Nord und Süd, die Probleme der Beherrschbarkeit von Wissenschaft und Technik in sozialer und technischer Hinsicht.
Das Scheitern des sogenannten „realen Sozialismus“, der eigentlich kein Sozialismus war, verdeckt, daß auch die modernen westlichen Gesellschaften mit diesen Herausforderungen gar nicht zu Rande kommen. Sie sehen gut aus, aber nur deshalb, weil sie sich mit uns vergleichen. Wenn sie sich an diesen neuen Herausforderungen messen müssen, wird das Bild wesentlich problematischer sein.
Was könnte die DDR in den künftigen deutschen Einheitsstaat einbringen?
Viel: Den „Runden Tisch“, aber es ist schon wieder unrealistisch zu glauben, daß der überleben würde. Die Idee „Wir sind das Volk“ - daß wirklich auf der Straße Politik gemacht werden kann in Aktionen breiter Bevölkerungsschichten - ist etwas Schönes, eigentlich Zukunftsträchtiges, aber die Entwicklung läuft auf diesem Gebiet entgegengesetzt. Vielleicht können wir basisdemokratische und plebiszitäre Elemente hinüberretten. Wünschenswert wäre eine Kultur in der Heterogenität, wie sie zum Beispiel bei der Demonstration am 4.November existiert hat. Die ist jetzt erst einmal tot, aber sie ist wieder zu entwickeln. Die Erinnerung daran wird ja zumindest da sein.
Das Interview führte Walter Süß
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